SWR2 lesenswert Kritik

Jaiwanti Dimri – Für Surju

Stand
Autor/in
Isabella Arcucci

Ende der 1990er Jahre verbrachte die indische Autorin Jaiwanti Dimri zwei Jahre als Dozentin an einer Universität in Bhutan. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit hat sie in einem Roman verarbeitet. Bhutan soll ja das „glücklichste Land der Welt" sein. In ihrem Roman „Für Surju" aber erzählt Dimri von Migration und Ausbeutung – und von weiblicher Solidarität über alle Klassenschranken hinweg.

Die Stadt Kanglung in Bhutan Ende der 1990er Jahre. Zwei alleinstehende Inderinnen hat die Suche nach Arbeit hier zusammengeführt. Die eine ist Dozentin an der Uni, die andere, Sukurmani, schlägt sich als Haushaltshilfe durch, ohne gültige Arbeitserlaubnis.

Die Akademikerin empfindet ihrer sogenannten «Dienstbotin» gegenüber sowohl Mitgefühl als auch Misstrauen. Aus dem gebrochenen Hindi der mal zutraulich, mal verschlossen wirkenden jungen Frau wird sie nie recht schlau. Dank Almuth Degeners gekonnter Übersetzung, kommt Sukurmanis sprachliche Unbeholfenheit auch auf Deutsch zum Ausdruck, ohne die Figur dabei ins Lächerliche zu ziehen. 

Und dann ist da noch Sukurmanis Kind, der vierjährige Surju. Ein unerzogener Bengel, der Sukurmanis Chefin zur Weissglut treibt – und zugleich Muttergefühle in ihr weckt. In Surjus Leben gibt es keinen Vater, kein richtiges Zuhause, keinen Kindergarten, in dem er gefördert würde. Mit seinen zerlumpten Kleidern ist er lebende Anklage gegen die Gesellschaft. Und letztlich auch gegen die Frau, die seine Mutter ohne soziale Absicherung bei sich arbeiten lässt.

Jaiwanti Dimris Roman «Für Surju» beruht auf eigenen Erfahrungen, wie die indische Autorin im Nachwort der deutschen Ausgabe erklärt. Dimri ist Literaturwissenschaftlerin und unterrichtete Ende der 90er für zwei Jahre am Sherubtse College in Kanglung. Trotz dieses zeitlichen Abstands ist der Roman nicht veraltet. Leider. Seine Themen, wie Armutsmigration, soziale und sexuelle Ausbeutung von Frauen, sind weltweit aktuell. «Für Surju» ist ein leises, aber eindringliches Buch. Zwar wird die Handlung nicht in der Ich-Form erzählt, aber dennoch aus der Perspektive von Jaiwanti Dimris Roman-Alter-Ego, der namenlosen Uni-Dozentin.

Im Zentrum steht das Schicksal von Sukurmani. Sie gehört einer ethnischen Minderheit Indiens an, musste aus ihrer von Stammeskriegen erschütterten Heimatregion fliehen, ihr Mann ist tot und nun schuftet sie in der Fremde. Erst als Bauarbeiterin, wie so viele indische Migranten, die in den Bergen Bhutans, dem angeblich «glücklichsten Land der Welt», unter prekären Bedingungen Straßen bauen. Doch auch ihr neuer Job als Haushaltshilfe für wohlhabende indische Expats bringt keine Verbesserung. Sukurmani haust in üblen Unterkünften mit männlichen Nachbarn, die nachts betrunken in ihr Zimmer kommen und den kleinen Surju zum Weinen bringen. Als westliche Leserin spürt man sofort den Impuls: Hier muss geholfen werden!

Die indische Universitätsdozentin jedoch zögert. Sie will Klassen- und Kastenschranken wahren, sich nicht mit dem Elend gemein machen. Dünkelhaft und feige? Diese Gewissensbisse plagen Sukurmanis Chefin bald selbst und sie beginnt, sich ihrer «Dienstbotin» emotional immer mehr anzunähern. Doch Sukurmanis Probleme sind mit etwas Frauensolidarität nicht gelöst. Sie ist Opfer von sozialer und sexueller Ausbeutung und von der eigenen kulturellen Prägung. Heim zum geliebten Vater kann sie nicht, weil die anderen Verwandten dann Himsa auf sie machen. «Himsa» ist das Sanskritwort für Gewalt. Aber meint Sukurmani damit körperliche Misshandlung oder eine Art Böser-Blick-Verhexung oder beides? Die «Dienstbotin» und ihre Chefin kommen zwar aus demselben Land, aber zwischen ihren Erfahrungen und Denkweisen liegen Welten.

Was beide eint: alleinstehende Frau zu sein, in einer männlich dominierten Gesellschaft. Jaiwanti Dimri legt in ihrem klugen und berührenden Roman komplizierte soziale Strukturen offen. Auch die Uni-Dozentin, befindet sich in einem ständigen Balanceakt zwischen Emanzipation und duckmäuserischer Anpassung. Sukurmani wiederum lässt sich wie per Autopilot gesteuert mit immer neuen Männern ein, von denen sie sich Sicherheit erhofft und die sie nur noch tiefer in einen Teufelskreis der Ausbeutung ziehen. Ihre Selbstermächtigung manifestiert sich einzig in ihrem kleinen Sohn, der der Welt mit Eigensinn und Rebellion begegnet, aller Aussichtslosigkeit zum Trotz. Der Titel «Für Surju» ist daher nicht nur Widmung, sondern auch Ausdruck verzweifelter Hoffnung.

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Autor/in
Isabella Arcucci