Je älter man wird, desto mehr drängen sich Vergleiche zwischen der Gegenwart und der Welt der Vergangenheit auf, die oft von Erinnerungen an Kindheitserfahrungen in ein nostalgisches Licht getaucht wird.
Der große Romanist und Intellektuelle Hans Ulrich Gumbrecht, der 1948 in Würzburg geboren wurde und seit Anfang der 1990er Jahre in Kalifornien lebt, kann mit seinen 75 Jahren auf eine Epoche zurückblicken, in der das Fernsehen ein gemeinsames Erleben stiftete, das von Entertainern wie Hans Joachim Kulenkampff geprägt war; er weiß noch, wie sich die erotischen Verhältnisse in einer Zeit darstellten, als es keine Anti-Baby-Pillen gab, und er hat als jemand, der in den 60er Jahren sozialisiert wurde, keine Schwierigkeiten, den intellektuellen Stil des existentialistischen Philosophen Jean Paul Sartre mit der Kultur der Zigarette zu verbinden. Er selbst hat freilich die allergrößte Mühe, sich von der Nikotinsucht zu befreien, wie er in seinem Essay über das Rauchen selbstironisch schreibt.
Kulturhistorische Reflexionen gepaart mit persönlichen Erfahrungen
Gumbrecht, dessen „neun Betrachtungen“ zu zeitgenössischen Lebensphänomenen in den Jahren 2021-22 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen sind, beherrscht die Kunst, kulturhistorische Reflexionen mit persönlichen Erfahrungen zu verbinden und sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Der Ton seiner kulturdiagnostischen Betrachtungen ist heiter-entspannt, auch wenn er in seiner „Symptomatologie der Gegenwart“ der ernsten Frage nachgeht, wie sich im Zeitalter der digitalen Modernisierung das Leben, Denken und Fühlen der Menschen verändert.
Das Wissen der großen Bibliotheken mag heute ins Internet überführt und die einstige Gelehrsamkeit durch Suchmaschinen entwertet sein, aber muss man das als Verlust beklagen? Eröffnen die neuen digitalen Technologien nicht vielmehr neue Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten?
Gumbrecht, der in einer „Betrachtung“ von seinem „Analog-Leben“ erzählt, das bis vor kurzem ohne Smartphone und Auto mit Navi auskam, setzt seine eigenen Generations-Prägungen bewusst von denen der Digital Natives ab, die heute ganz selbstverständlich mit elektronischen Medien hantieren.
Analoges Vor-Leben und neue Erfahrungen mit der digitalen Welt
Dass das Bargeld, dem eine andere Betrachtung gewidmet ist, durch elektronischen Zahlungsverkehr immer mehr verschwindet, kann einerseits als Ausdruck einer zunehmenden Abstraktion der Weltverhältnisse verstanden werden, ein Verlust haptischer Gewissheiten, andererseits aber auch als „elegantere Beziehung zu Raum und Materie“.
Gumbrecht reflektiert die Gegenwart nicht aus der Perspektive einer selbstgewissen Kulturkritik, wie sie in seiner vom neomarxistischen Denken geprägten Generation üblich war, sondern zeigt sie in ihren Ambivalenzen.
Wenn er zum Beispiel den Stierkampf und seine Ablehnung im „ökologisch-moralischen Klima unserer Gegenwart“ beschreibt – ein Thema, in dem er sich schon qua seiner Profession als Romanist gut auskennt – erwägt er durchaus die guten Gründe, die die Tierschützer zu ihrer Ablehnung des Stierkampes motivieren, gibt aber ebenso zu bedenken, dass in der Idee einer erstrebten „kosmischen Solidarität“ zwischen Menschen und Tieren, das Erleben des menschlichen Todes, das sich im Stierkampfritual ebenso manifestiert, verdrängt wird.
Ambivalenzen der Gegenwartskultur
In einem seinen neun Betrachtungen vorangestellten Essay geht Gumbrecht den diversen Ambivalenzen, die die Gegenwartskultur auszeichnen, systematischer nach und entwirft eine dialektische Theorie, die zeigt, wie Menschen auf die immer weitergehende Abstraktion des Lebens durch neue Technologien mit der Sehnsucht nach Körperlichkeit, Räumlichkeit und Konkretheit reagieren.
Insgesamt plädiert der Gelehrte, der gerade mürrisch das Rauchen aufgegeben und interessiert die Bedienung eines Smartphones gelernt hat, angesichts der widersprüchlichen Gegenwart für die gelassene Haltung eines „Überlebens ohne Drama“. Eben diese Gelassenheit im Ton zeichnet seine ebenso geistreichen wie unterhaltsamen Essays aus.