Eine Dorfgemeinschaft voller Brutalitäten
Greta Lauer führt in ihrem Debutromanin eine sektenartige Dorfgemeinschaft, die von blindem Gehorsam lebt. Verstümmelungen und sexueller Missbrauch sind in dieser Kommune an der Tagesordnung. Die Traditionen zu hinterfragen, wagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes nicht.
„Aber es gibt niemanden, der über das Schicksal von einem Menschen, einem Dorf oder einer Welt bestimmt, keinen Anderen, der das Glück in den Händen hält und es austeilt, wie es ihm gefällt. Es gibt auch kein Glück. Geben tut es überhaupt nichts, außer vielleicht die Ohnmacht.“
Den Geistern der eigenen Vergangenheit entfliehen. Ein schwieriger Prozess
Hier werden die Traumata deutlich, die eine Generation der nächsten vererbt. Liebe und Zuneigung gibt es in den Familien nicht, die Gemeinschaft wird durch die Akzeptanz der Missstände zusammengehalten. Die Rollenverteilung im Dorf und in der Familie der namenlosen Erzählerin ist ebenfalls klar: Ihre Großmutter widmet sich den Verstümmelungsbräuchen an Heranwachsenden, während die Mutter Kinder gebiert und großzieht.
Mit dem Tod der Großmutter wird der Erzählerin klar, dass sie die Nachfolge der Mutter antreten muss. Da fasst sie den Entschluss, das Dorf zu verlassen. Der Ausbruch aus der sektenartigen Kommune ist allerdings harte Arbeit. Er bedeutet, sich neu zu orientieren und die Sprache zu verlernen, die man in der Kindheit gelernt hat. Diesen Weg beleuchtet Greta Lauer in ihrem Text:
„Ich bin auf die andere Seite der Stadt gegangen, aber ich kann nichts fassen, nichts greifen. Mir sind die Sprachfinger abgefallen. Die Großmutter hat die Sprache in mich hineingelegt und dann zu sprechen aufgehört.“
Dass sich die Wiener Autorin so intensiv mit Traumaverarbeitung und Kindheit auseinandersetzt, mag nicht zuletzt an ihrem Studium der Psychoanalyse liegen. Welche Folgen sexueller Missbrauch haben kann, wird in „Gedeih und Verderb“ vor allem über die Figuren der sogenannten „losen Frauen“ deutlich.
Für sie besteht keine Hoffnung jemals aus der brutalen Gemeinschaft auszubrechen. Sie erfahren so viel Leid, dass ihnen jeder Funke Leben geraubt wird. Bis sie irgendwann buchstäblich in den Wänden verschwinden – ein Sinnbild für schwere Depressionen.
„Gedeih und Verderb“ ist ein düsterer Text, der immer wieder aufs Neue mit den menschlichen Abgründen, mit Grausamkeit und Bosheit konfrontiert. Als die Erzählerin eine „Jungengestalt“ kennenlernt, scheint eine Wendung zum Positiven in Sicht zu sein. Aber auch die verschwindet schnell wieder am Horizont.
Nur die Passagen, in denen die Erzählerin den Status Quo im Dorf hinterfragt und es schließlich verlässt, erlauben ein Durchatmen. Doch über weite Teile sehen wir die Welt durch die Augen einer Person, die nur den Schrecken kennt. Die versucht, den Geistern ihrer Vergangenheit zu entfliehen. Die Lichtblicke sind rar in diesem Text voller brutaler Bilder.
„Irgendwas krabbelt meinen Rücken hinauf. Ich drehe meinen Kopf und sehe: Da hockt eine Gestalt bei einem, der träumt, und flüstert ihm ins Ohr. Ich drehe den Kopf in die andere Richtung, sehe noch eine Gestalt, sie dreht ihr Gesicht und schaut mich geradewegs an. Irgendwas krabbelt meinen Rücken hinauf. Ich greife an die taube Stelle an meinem Hals und erschrecke.“
Drängende Sprache und Wortneuschöpfungen zeichnen diesen Roman aus
Dass einen dieses Debut trotz aller Grausamkeiten gefangen nimmt, liegt an Greta Lauers rhythmischer, eigenwilliger, drängender Sprache. An Wörtern wie „Klumpenmenschen“, „Sprachfinger“, und „Schenkelkehlen“, an „Zehenköpflein“ und „Zähneregen“.
Manchmal scheint die Autorin allerdings etwas zu begeistert von ihren Wortneuschöpfungen. Das Wort „Augäpfelein“ fällt beinahe auf jeder zweiten Seite. Dennoch lohnt es sich, dem sprachlichen Sog dieser Geschichte nachzugeben, sich auf die schmerzhaften, grotesken Szenarien einzulassen. Dass der Erzählerin der Ausbruch aus dieser Welt gelingt, ist umso befreiender.