Natürlich entsteht Schönheit immer nur in uns selbst, in unserem Geist und durch unsere Offenheit für das, was wir uns erlauben wahrzunehmen. Trotz seiner unausweichlichen Subjektivität ist dieses Buch jedoch von großem Reichtum. Gabriele von Arnim erkundet zahlreiche Facetten der Schönheit: Die Beglückung und den Trost, aber auch die Verstörung, Sehnsucht und Traurigkeit, die sie auslöst, denn Schönheit ist vergänglich, und wir fürchten die Vergänglichkeit.
Erkundung von zahlreichen Facetten der Schönheit
Die Autorin zitiert Aussagen über die Schönheit von überwiegend männlichen Philosophen, Wissenschaftlern und Schriftstellern, aber die Beispiele alltäglicher gelebter Schönheit stammen von Frauen. Die Freundin, todkrank aus Afghanistan zurückgekommen, verkleidet die Wände ihres Klinikzimmers mit bunten Tüchern. Die Überlebende des Attentats auf die Synagoge in Halle kauft auf dem Heimweg einen Blumenstrauß. „Schöne Dinge können uns daran erinnern, dass wir sind“, schreibt Gabriele von Arnim.
Die Dinge, mit denen sie selbst lebt, werden ausführlich gewürdigt: die orange und lila gestreifte Decke, die blaue Vase, der üppig begrünte Balkon – „Nur für mich allein bepflanzt“, wie sie, die seit zehn Jahren Witwe ist, staunend anmerkt. Und an ihrem Geburtstag beschenkt sie sich selbst mit ihrem Lieblings-Frühstück, lachsfarbenen Rosen, einer Jacke und einem Tuch.
Schönheit wirkt sich auf unsere seelische und körperliche Gesundheit aus
Neurobiologen wissen, dass sich als schön empfundene, harmonisch geschnittene Räume auf die geistige und körperliche Gesundheit auswirken. Einmal fährt Gabriele von Arnim mit der Ringbahn durch Berlin an deprimierenden Betonklötzen vorbei und fühlt sich von der brutalen Hässlichkeit angegriffen. Sie fragt sich, wie man wahrhaft Mensch sein könne in solchen Straßen und Häusern und erzählt von der französischen Architektin Odile Decq. Diese lässt ihre Studenten auch von einer Neurologin unterrichten und mit einem Choreographen tanzen, damit sie erfahren, wie Räume sich auf Geist und Körper auswirken.
Schmerzhafte Kindheitserinnerungen
Mit inzwischen siebenundsiebzig Jahren lernt Gabriele von Arnim die für sie nicht selbstverständliche Fähigkeit, das Jetzt mit offenen Sinnen zu leben. In der Hamburger Villa, in der sie als „höhere Tochter“ aufwuchs, verhielt man sich beherrscht und war erfolgreich. „Nur das Scheitern wurde thematisiert“, schreibt sie. Die Kindheitserinnerungen verändern den Erzählton: Er wird schmerzhaft-bitter. Das Fühlen zu erkunden sei für sie ein Wagnis, schreibt die Autorin. Denn Schönheit ist nur als gefühlte erlebbar, aber mit den positiven Gefühlen wird auch der unerlöste Schmerz aus der Kindheit erweckt. „Meine Kindheit“, sagt sie, „ist wie ein Wespennest, von dem immer mal wieder fiese Viecher ausfliegen, mich finden und stechen.“
Gabriele von Arnim schreibt assoziativ, abschweifend, mäandernd. Ich lese das wie ein Gespräch mit einer lebensklugen Freundin am Küchentisch, nicke zustimmend, möchte manchmal widersprechen, erfahre nichts eigentlich Neues, aber sehe das Bekannte oft mit anderen Augen. Gabriele von Arnim hat ein stellenweise geradezu trotziges Manifest für das Menschenrecht auf Schönheit verfasst. Ein Buch, das übrigens – wie sollte es auch anders sein – sehr schön und stellenweise geradezu poetisch geschrieben ist.