Es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Und irgendwie kommt uns das alles bekannt vor: Die Klimaleugner, die Geschäftemacher, die Vergnügungssüchtigen im Angesicht der Katastrophe. Eugen Ruges neuer Roman „Pompeji“ geht zurück in die Antike und zeichnet zugleich das überraschend gegenwärtige Bild einer zu Grunde gehenden Gesellschaft. Eine herausragende Satire!
Eugen Ruge wurde 1954 in der Sowjetunion geboren und ist in der DDR aufgewachsen. Er ist Autor zahlreicher Theaterstücke, Hörspiele und Romane. Zuletzt hatte er vor vier Jahren mit „Hotel Metropol“ einen großen Erfolg, den er mit seinem neuen Roman, der heute erscheint, wiederholen könnte: „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ - Jörg Magenau.
Im Herbst des Jahres 79 wurde die Stadt Pompeji unter Vulkanasche und Gestein begraben. Damit ist vorgegeben, wie ein Roman über Pompeji endet: mit dem Untergang der Stadt und dem Tod all derer, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Eugen Ruges „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ spielt in den 17 Jahren zwischen dem großen Erdbeben im Jahr 62 und der finalen Katastrophe.
Doch Ruges „Pompeji“ ist kein historischer Roman. Der Witz besteht vielmehr darin, dass die Menschen von damals wie die heutigen fühlen, denken und handeln. Ruges Tanz auf dem Vulkan macht eine dekadente Gesellschaft erlebbar, die bis in den Untergang hinein mit ideologischen Grabenkämpfen, Verschwörungstheorien, politischen Intrigen und Geschäftemacherei befasst ist.
Damit schreibt Ruge interessanterweise eine Tradition der DDR-Literatur fort, die die realsozialistische Wirklichkeit auf dem Umweg über die Antike kritisierte, um so der Zensur zu entgehen. Doch bei Ruge ist das sehr viel leichter und lustiger. Sein fiktiver Autor ist ein namenloser Chronist, der – so die Romankonstruktion – auf achtzehn in einer Amphore versteckten Schriftrollen die wahre Geschichte Pompejis festgehalten hat. Denn Wahrheit gibt es seiner Meinung nach nur so, versiegelt und abseits einer zur Meute verkommenen Öffentlichkeit mit all ihren widerstreitenden Interessen.
„Glaube weder den Besitzenden und ihren Anwälten, die nachträglich die Grundflächen von Villen hochrechnen, noch den armen Schluckern, die sich auf einmal eine schöne Vergangenheit erfinden, nachdem sie jahrelang über buchstäblich alles geklagt und gejammert haben. Glaube (…) nicht den Dichtern, nicht den Historikern, nicht den Mächtigen und nicht den Machtlosen (…). Glaube nicht denen, die vorgeblich von nichts gewusst haben, und glaube erst recht nicht denen, die sagen, sie hätten es schon immer gewusst.“
Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein junger Mann namens Jowna oder Josephus oder Josse, der eher mäßig talentiert, eher opportunistisch und nicht besonders sprachbegabt gewesen zu sein scheint, der aber doch als Gründer des Vereins der Vulkanisten, als Initiator einer neuen Siedlung außerhalb der Stadt und nicht zuletzt als großer Redner in die Chronik eingeht. Geschichte, so zeigt sein erstaunlicher Aufstieg, ist weniger das Resultat klarer Absichten, als das Ergebnis günstiger Gelegenheiten.
Auf jeder Seite ist diesem klugen Buch der diabolische Spaß anzumerken, den Eugen Ruge dabei hatte, all die miteinander konkurrierenden Ismen und sophistischen Eitelkeiten vorzuführen. Da stehen die Interessen römisch-westlicher Kolonisatoren den Gefühlen der östlich-samnitischen Kolonisierten gegenüber. Eine marxistisch tendierende Fraktion hält die Warnungen vor dem Vulkanausbruch für ein Ablenkungsmanöver der herrschenden Klasse. Und ein nahezu allwissender Sklave beatwortet hinter einem Vorhang stehend alle Fragen – so ähnlich wie heute Amazons „Alexa“. Er ist es auch, der über die Verwerfungen in der Gesellschaft nachdenkt:
„Die Bruchkante, denkt er, verläuft nicht exakt zwischen arm und reich, auch nicht zwischen gebildet und dumm, sondern es sind die eher römisch-patriotischen Bürger, die die Vulkangerüchte ablehnen, sie in den Bereich abstruser fremder Kulte oder gar des Christentums verweisen, während die anderen, die Nörgler und Querulanten, an den Vulkan glauben. Wieso ist das so?“
Ja, wieso? Weil die einen etwas zu verlieren haben, die anderen aber in der Katastrophenerwartung wenigstens ihre Schadenfreude ausleben können? Weil Querdenkertum sich aus niederen Impulsen speist, am Ende aber trotzdem Recht gehabt haben könnte? So wie jeder Hypochonder letzten Endes Recht hat?
Zum Glück sind die Gegenwartsbezüge kompliziert, und nicht alle Einzelheiten der antiken Erwartung oder Leugnung der Katastrophe lassen sich aktualisieren. Darin liegt aber gerade der Reiz dieses intelligenten Spiels mit dem Feuer des Vulkans und den Abgründen einer mit sich selbst befassten Öffentlichkeit.