SWR2 lesenswert Kritik

Erin Flanagan – Dunkelzeit

Stand
Autor/in
Sonja Hartl

Eine Teenagerin verschwindet aus einer Kleinstadt in Nebraska, die Bewohner sind sich schnell einig, dass der geistig beeinträchtigte Hal etwas damit zu tun hat. Nur die starrsinnige Alma ist bereit, Hal bis aufs Letzte zu verteidigen.

Erin Flanagans Debütroman „Dunkelzeit" nimmt ein Verbrechen als Anlass, um über das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt zu erzählen - und fügt gerade so viele Spannungselemente hinzu, dass das Buch noch als Kriminalroman durchgehen kann.

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Die 17-jährige Peggy Ahern ist verschwunden. Für die Bewohner der Kleinstadt Gunthrum in Nebraska im Jahr 1985 steht schnell fest, dass der naive Hal etwas damit zu tun haben muss. Seit er vor Jahrzehnten als Kleinkind beinahe ertrunken wäre, ist er geistig etwas beeinträchtigt.

An Peggy hatte er Gefallen gefunden. Und mehr noch: An dem Wochenende, an dem sie verschwunden ist, war Blut in seinem Pickup. Einzig seine Ersatzmutter Alma Costagan glaubt an Hals Unschuld. Und ist bereit, alles zu tun, um ihn vor der Strafverfolgung zu bewahren.

In der Hirschsaison wird gejagt. Und gestorben.

„Deerseason“ ist der sehr zielsichere Originaltitel von Erin Flanagans Krimi „Dunkelzeit“: Die Hirschsaison ist im Herbst, eine Zeit des Jagens und Sterbens. Deshalb soll es auch eine Hirschkuh gewesen sein, deren Blut an Hals Pickup klebt. Aber das glauben die Dorfbewohner nicht, die in ihm den perfekten Schuldigen gefunden haben. Und Hal? Er versteht, dass Menschen, die ihm einst wohlgesinnt waren, sich nun gegen ihn wenden. Aber er versteht nicht, was er sagen muss, um sich zu entlasten. Der örtliche Sheriff macht indes alles richtig, er ermittelt ausgewogen, vorsichtig. Dass er die Gemeinde kennt, erweist sich tatsächlich als Vorteil und nicht wie so oft in Kriminalromanen als Bremse für die Ermittlung aufgrund von Voreingenommenheit. Er will die Gemüter beruhigen, betont immer wieder, dass es keine Beweise gegen Hal gebe. Aber Peggys Eltern sehnen sich nach einem Täter und ziehen noch einen Privatermittler hinzu, der knallhart auftritt, aber glücklicherweise erzählerisch eine Randfigur bleibt.

Eine Kleinstadt namens Gunthrum

Das passt zu diesem Roman, in dem die detektivischen Elemente minimal sind und das soziologische und psychologische Interesse überwiegt: Im Mittelpunkt der Erzählung sind drei Figuren, die etwas außerhalb der Dorfgemeinschaft stehen. Peggys 12-jähriger Bruder Milo, der anfangs sauer ist, dass seine Schwester wieder alle Aufmerksamkeit bekommt, aber dann begreift, dass sie möglicherweise nicht mehr lebt. Er liest und lernt gerne und viel, macht sich seine eigenen Gedanken, hinterfragt seinen Glauben – und das in einem Ort, in dem das Leben der Jungen aus Jagd und Football besteht. Die anderen beiden Figuren sind Alma und Clyle Costagan. Alma ist vor 14 Jahren wegen ihres Mannes nach Gunthrum gezogen. Aber sie ist immer noch eine Außenseiterin im Ort – zu schroff, zu selbstbewusst, zu direkt und genau diese Eigenschaften machen sie zu einer hinreißenden Figur in diesem Roman. Sie leidet unter den kleinstädtischen Strukturen, der engen sozialen Kontrolle und darunter, dass sie und Clyle keine Kinder haben. Auch deshalb ist die starrsinnige Alma bereit, Hal bis zum Letzten zu verteidigen.

Gekonnt zeichnet Flanagan mit lebensnahen Figuren und Dialogen die Routine des Lebens in der Kleinstadt von nachbarschaftlichen Sexpartys über Freitagabend-Footballspiele bis zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch. Sie markiert die konservativen und sexistischen Strukturen des Orts in dieser Zeit. Sobald etwas passiert, ist stets eine Frau schuld – darüber sind sich alle einig: Hals Mutter hatte seinen Unfall zu verschulden, Peggy ist verschwunden, weil ihre Mutter wieder angefangen hat zu arbeiten, und der Mann geht fremd, weil die Frau kalt und schwierig geworden ist.

Ein Krimi mit nur sehr wenig Kriminalität

Peggys Verschwinden ist lediglich der Anlass, um von diesem Ort zu erzählen. Damit reiht sich „Dunkelzeit“ ein in einen Trend in der gegenwärtigen Literatur, in der ein Kriminalfall nur noch Motivation für das Erzählen anderer Geschichten ist. Diese Entwicklung ist ambivalent: Sie deutet daraufhin, dass sich unter dem Label „Kriminalroman“ Bücher einfach gut verkaufen lassen. Aber indem sich das Erzählen innerhalb und außerhalb des Genres immer mehr annähert und alles zum „Kriminalroman“ wird, werden genrespezifische Stärken nicht ausgeschöpft.

Auffällig häufig ist es zudem ein Verbrechen an einem Mädchen, das Auslöser für die Nachforschungen und damit der soziologischen Erkundungen der Gemeinschaften ist. Mädchen sind populäre Opfer in Kriminalromanen, weil sie Unschuld und zugleich Zukunft verkörpern – und damit ein Verbrechen noch verwerflicher wird. In „Dunkelzeit“ wird durch Peggys Verschwinden die vorgeschobene Unschuld des Lebens in einer Kleinstadt entlarvt. Die gelüfteten Geheimnisse aber sind letztlich banal. Und das passt zu diesem unaufgeregten, guten Roman über das Leben in Nebraska, der aber weniger ein Kriminal- als ein Gesellschaftsroman ist.

Stand
Autor/in
Sonja Hartl