Der Ressourcen-Verbrauch muss drastisch verringert werden
Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer wird in den Medien oft als Provokateur bezeichnet. Sein neues Buch aber beginnt mit einer Feststellung, die auch Konservative erfreuen wird: Wir haben bereits ein hohes Niveau an Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das es zu bewahren gilt.
Was wir vor allem verändern müssen, ist das Wirtschaftsprinzip mit seinem katastrophalen Ressourcen-Verbrauch.
Ein realistischer Utopist
Welzer ist ein realistischer Utopist. Die Errungenschaften der Gesellschaft betrachtet er als Bausteine, die entweder die Grundmauern einer besseren Gesellschaft bilden können oder aussortiert werden sollten. Und alles hängt mit allem zusammen.
Wie also könnte eine Gesellschaft aussehen, die ihre Ressourcen schont, den Hyperkonsum nicht mehr braucht, das soziale Miteinander höher bewertet als den Profit und dabei dem Einzelnen ein hohes Maß an Autonomie und sinnerfülltem Leben garantiert?
Zeit ermöglicht dem Menschen Freiheit
Bei diesem Denkmodell geht es nicht um Einzelentscheidungen und kleine Verbesserungen hier und dort; da muss im großen Zusammenhang gedacht werden.
Zum Beispiel können wir, schreibt Welzer, nur sozial handeln, wenn wir den Raum zur Freiheit haben, der wiederum nur durch einen völlig anderen Umgang mit der Zeit entstehen kann.
Die individualisierte Wettbewerbsgesellschaft zwinge die Menschen, einen Großteil ihrer Zeit mit oft sinnentleerter Arbeit zu verbringen, wofür sie sich dann in ihrer sogenannten Freizeit mit Konsum entschädigten. Welzer zeigt, dass es die Klöster waren, die einst Arbeit als erzieherisches Mittel etablierten. Eine Verkoppelung von Arbeit und Moral, die bis heute wirkt und Müßiggang verurteilt.
Warum arbeiten wir so viel?
Welzer stellt die herrlich provokative Frage, warum wir eigentlich so viel arbeiten, und ist natürlich ein Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens, das Existenzangst verringern und Druck aus dem System nehmen könnte.
In der Wirtschaftswelt würden dagegen durch Einrechnung sämtlicher Umweltkosten viele Waren erheblich teurer; der kluge Konsument würde also regionale oder bescheidenere Produkte wählen.
Autolose Städte und kostenloser Nahverkehr statt Individualverkehr
Eine lebenswerte Gesellschaft verzichtet nach Welzer weitgehend auf den Individualverkehr; autolose Städte mit einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr seien machbar, schreibt der Autor, man müsse sie nur wollen.
All diese Ideen sind ja nicht neu; der Wert des Buches liegt darin, sie zu einem schlüssigen System zusammenzuführen. Es ist ja geradezu die Pflicht des Utopisten, groß zu träumen.
Wir können uns ein völlig anderes Lebensmodell erst mal nicht vorstellen
Und so bewegen sich in Welzers Gesellschaftsentwurf freie Menschen, die auf sinnlosen Konsum verzichten, die digitale Welt nicht mehr als Freundschaftsersatz benutzen, sich aus eigenem Wunsch sozial engagieren und einander mit Freundlichkeit begegnen, weil die Umwelt keinen Anlass mehr bietet für Aggressionen.
Wie alle Sozialwissenschaftler ist Welzer davon überzeugt, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Unsere Vorstellungen von Wohnen, Mobilität und Arbeit seien, schreibt er, dermaßen von den etablierten Lebensformen geprägt, dass wir uns ein völlig anderes Lebensmodell erst mal nicht vorstellen könnten.
Lassen sich Reaktionsmuster wie Neid und Gier überwinden?
Die Rezensentin aber fragt sich: Wenn ein paar visionäre Geister in den entsprechenden Machtpositionen eine solche neue Gesellschaftsform eines Tages verwirklicht hätten – wären dann im Menschen tief verwurzelte Reaktionsmuster wie Neid, Konkurrenzverhalten und Gier ebenfalls transformiert oder würden sie sich auf heute unvorstellbare Weise äußern?
Das ist kein Einwand gegen das übrigens auch sehr unterhaltsam geschriebene Buch von Harald Welzer. Es zeigt die historischen Voraussetzungen unserer heutigen Lebensform; etwas Gewordenes aber ist keineswegs alternativlos, sondern seinem Wesen nach beweglich und deshalb veränderbar.