SWR2 Buch der Woche vom 16.9.2018

Thomas Hürlimann: Heimkehr

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Zwölf Jahre ist es her, seit der letzte Roman des Schweizer Autors Thomas Hürlimann erschienen ist. In seinem neuen Roman „Heimkehr“ tauchen einige aus früheren Romanen bekannte Motive wieder auf, auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Im Mittelpunkt dieser modernen Odyssee steht eine Vater-Sohn-Geschichte, die Suche nach der eigenen Herkunft.

Was passiert, wenn die Wirklichkeit nicht mehr zum Selbstbild passt und die Erinnerung nur schemenhaft zurückkehrt? Die Welt schwankt, das Bewusstsein schwebt. Für die Literatur ist diese traumartige Zwischenwelt ein Fest, und Thomas Hürlimann inszeniert es in „Heimkehr“ meisterhaft.

Ein Unfall bringt die bizarre Handlung ins Rollen

Was eigentlich ist die Wirklichkeit? Wo zerfließt sie und wird zum Traum? Und existiert zwischen Leben und Tod eine Zone, die dem Bewusstsein zwar zugänglich ist, sich einer rationalen Erklärung aber entzieht? Sind es lediglich Neuronalschwingungen, die sich ereignen, wenn man im Zwischenreich landet – dem Diesseits noch verbunden, vom Jenseits bereits ergriffen?

Diese Fragen sollte man zumindest im Hinterkopf behalten, wenn man sich durch Thomas Hürlimanns schwindelerregenden Roman „Heimkehr“ bewegt. Sie könnten jedenfalls eine Folie liefern, auf der sich das bizarre Geschehen seines neuen Buches abspielt. In Gang gesetzt wird dieses durch einen Crash:

Der verunfallte Fahrer Heinrich Übel Junior ist auf dem Heimweg zum väterlichen Unternehmenssitz in den Schweizer Bergen. Vor fast zwei Jahrzehnten wurde er vom Patriarchen, der eine Gummifabrik leitet, mit einem ziemlich – nomen est omen – üblen Kalauer vom Firmenhof gejagt:

Heinrich Junior hatte sich daraufhin in eine billige Absteige in Zürich verkrochen, als Gasthörer an der Universität nach Lust und Laune verschiedenste Fächer studiert, Kontakte zur Kulturschickeria gepflegt, eine Beziehung in den Sand gesetzt, schließlich auf mehreren tausend Seiten seine verkorkste Lebens- und Familiengeschichte aufgeschrieben, der verschwundenen Mutter nachgetrauert, das Urteil des Vaters ertragen oder verdrängt und davon geträumt, eines Tages mit Doktortitel und erhobenen Hauptes Heinrich Senior entgegentreten zu können.

Der Ödipuskonflikt ist eine präsente Ebene des Romans

Dazu kommt es nicht. Stattdessen starrt ihn der Vater als Allgegenwärtiger von jeder Plakatwand Zürichs einschüchternd an: Mit dem HIV-Virus ist die wankende Gummifabrik plötzlich wieder im Aufwind, und überall werden Dr. Heinrich Übels Verhüterli beworben: Die sexuelle Drohung des Big Father könnte deutlicher nicht sein, und der sich hier andeutende Ödipuskonflikt ist vielleicht die am wenigsten subtile Ebene des Romans.

Dann kommt jedenfalls der fatale Tag, der mit einem aufgeregten Anruf der zwielichtigen Assistentin des Vaters beginnt: Heinrich solle rasch nach Hause kommen, dem alten Herrn sei etwas widerfahren. Die Fahrt wird zum Desaster, zum Höllenritt, zum schauerromantischen Alptraum. Und das Ergebnis ist der schon erwähnte Autounfall auf einer Brücke, der äußerst merkwürdige, weder für Heinrich noch für den Leser recht durchschaubare Folgen zeitigt. Der ewige Sohn erwacht nämlich nicht in einem Schweizer Hospital, sondern seltsamerweise in einem Hotel auf Sizilien, äußerlich verändert: Statt vollem Haar ziert nun eine imposante Narbe den Glatzkopf.

Er wird von den Einheimischen bewundert: als Abenteurer, als viriler Draufgänger, als Mann der Tat. Die Frauen bieten sich ihm, der in der Liebe immer eher auf der Verliererseite stand, nun willfährig an. Er wird gar zum Consigliere des neuen Paten im Dorf ernannt. Sein Dasein gibt diesem Heinrich Übel Junior die größten Rätsel auf, und die alles entscheidende Frage lautet: Wer zum Teufel bin ich eigentlich?

Eine absurde Reise auf der Suche nach dem eigenen Ich

Der in früheren Büchern eher kontrollierte Erzähler Thomas Hürlimann lässt nun in seinem neuen Roman alle Zügel schleifen: Die Suche nach der Kapsel voller Erinnerungen ist eine Odyssee, eine mythische Reise, deren Ziel zwar immer die Heimkehr ins väterliche Fräcktal bleibt, aber den Helden nicht nur nach Sizilien bringt, sondern auch an die Küste Afrikas spült und zum Internationalen Gummikongress nach West-Berlin führt.

Immer absurder werden die Abenteuer Heinrichs auf der rastlosen Jagd nach dem eigenen Ich. Die Liebe zu einer überzeugten Kommunistin aus Ost-Berlin, groteske Begegnungen mit DDR-Funktionären, die glauben einen Devisen-Hit mit einem schnurlosen Telefon in Form eines Ohrensessels landen zu können; der Zusammenbruch der Mauer und des gesamten Ostblocks, die verstörenden Kindheitserinnerungen, satirische Ausflüge in die Kunstszene Zürichs – das alles verbindet Hürlimann mit überbordender Fabulierlust zu einem ziemlich durchgeknallten, mitunter geradezu ausfransenden Schelmenroman.

Das Buch hat wie sein Held etwas Haltloses: Als müsste immer noch eine Übersteigerung das ohnehin schon Übersteigerte dieser Geschichte überbieten. Natürlich ist das ein kalkuliertes Spiel, und wie jedes Spiel ist es todernst: Da sucht einer nach sich selbst, nach seiner Herkunft, nach einer Frau, die immer auch die früh verlorene Mutter ist, und das Ganze scheint sich in der Logik eines Traums abzuspielen, der zuweilen Züge eines Alptraums annimmt.

Kenner der Schweizer Literatur werden Anspielungen finden

Zwischen romantischem Märchen, Satire und Mythos schwebt diese Prosa hin und her; die Antike lauert in Sizilien hinter und unter jedem Stein, die christliche Erziehung schwebt wie ein Damoklesschwert über dem stolpernden Helden, und Hürlimann selbst ringt mit den Geistern der Schweizer Literatur – Gottfried Keller, Max Frisch und einige andere mehr schleichen sich in den Text hinein, und es schnurrt da sogar ein sprechender Kater, dem so nur Michail Bulgakow oder E.T.A. Hofmann eine größere Bühne bereitet haben.

Wir Leser bleiben dabei aber so hilf- und ratlos wie Heinrich Junior selbst.

Die Frage nach dem Überleben stellt sich von Seite zu Seite dringlicher. Welches Bewusstsein spricht da gerade? Eines, das in Auflösung begriffen ist? Bereits aus einer anderen Sphäre auf sein Ich herabschaut und wie in Trance sein rätselhaftes Leben noch einmal zusammenzusetzen versucht? Ein Nahtoderlebnis also? Oder schon eine Jenseitsstimme, die da zu uns hinüberweht? Hürlimann lässt all das geschickt in der Schwebe.

Wie er ohnehin ein Meister darin ist, seinem Roman ein paar Schlüssel beizulegen, die zwar zu Türen passen, hinter denen dann aber nur ein weiteres Geheimnis schlummert. Apropos Schlüssel: Wie jeder bedeutende Autor hat auch Hürlimann ein Reservoir, aus dem er schöpft, Motive, die immer wieder auftauchen. In seinen Romanen und Novellen hat er sich mehrfach mit seiner durchaus bewegten Familiengeschichte auseinandergesetzt, dem Vater wie der Mutter Bücher gewidmet, ohne dass man ihnen das Etikett „autobiographisch“ hätte anheften können.

Auch in „Heimkehr“ kommen dem Hürlimann-Leser gewisse Konflikte – etwa zwischen Vater und Sohn – vertraut vor, aber sie sind auf hochliterarische Weise verwandelt. Wie überhaupt diese epische Erzählung von Verwandlungen handelt. Und von der daraus folgenden Unmöglichkeit, das einstmals Heimische jemals wieder so vorzufinden, wie man es verlassen hat.

Die Heimkehr Heinrichs ist mit Scheitern verbunden

Wie Lazarus geht es auch dem auferstandenen Heinrich Übel Junior: Der Stein lässt sich zwar vorm Grab wegrollen, aber man tritt aus der Gruft nicht mehr als jener, der man war. Jede Erfahrung, und ist sie nur eine Phantasmagorie, verändert die Realität und die eigene Relation zu ihr.

Insofern ist Hürlimanns Heinrich am Ende als immer wieder scheiternder Heimkehrer ein glücklicher Sisyphos – oder ein bedauernswerter Lazarus. Thomas Hürlimann geht es in seinem umfangreichen und durchaus großen Roman um Leben und Tod und vor allem das Dazwischen. Dieses Dazwischen jedenfalls ist ein wunderbarer Ort für die Literatur.

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Autor/in
Ulrich Rüdenauer