Die Revolution als Gelegenheit, Utopie zur Wirklichkeit werden zu lassen
Von einer besseren Welt träumen viele. Dichter und Künstler zum Beispiel. Natürlich haben sie selten Gelegenheit, ihre Utopien Wirklichkeit werden zu lassen. Was aber, wenn sie es doch einmal könnten? Wenn die Kunst die Macht über die Wirklichkeit bekäme? Nimmt man die Münchner Räterepublik als Beispiel, muss einem vor dieser Vorstellung leider Angst und Bange werden.
Schon der Beginn der Revolution nach Kriegsende im November 1918 kam vielen Zeitzeugen wie ein schlechter Scherz vor. Thomas Mann sprach gar von einem "Faschingsersatz". Aber wie auch anders, wenn die herrschende Ordnung plötzlich zusammenbricht und sich die königliche Familie nach 900-jähriger Herrschaft bei Nacht und Nebel aus dem Staub macht – und wenn sich dann ausgerechnet ein Feuilletonist zum Ministerpräsidenten erklärt. Der Theaterkritiker Kurt Eisner war es in diesem Fall, ein "Traumtänzer", wie Volker Weidermann sagt. Eisner habe sich einfach auf den freigewordenen Stuhl gesetzt und Demokratie ausprobiert.
Der kurze Traum einer sozialistischen Gesellschaft der Menschenliebe
Volker Weidermanns Buch über die Münchner Räterepublik trägt den Titel "Träumer" und ist knapp 300 Seiten stark. In ihm kann man nachlesen, wie tragisch bereits Kurt Eisner scheiterte, der „Träumer und Prophet“: Aus Bayern, dem neuen Freistaat, wollte er mit Hilfe der Kunst ein Modell für ein besseres, friedliches Deutschland machen; bei den ersten Wahlen erzielten Eisners "Unabhängige Sozialdemokraten" dann aber nur mickrige 2,5 Prozent.
So richtig verrückt wurde es aber erst nach seiner Ermordung durch einen rechten Fanatiker, als im April 1919 Schriftsteller wie Ernst Toller, Gustav Landauer oder Erich Mühsam das Machtvakuum zwischen Parlament und Kommunisten für sich nutzten und die "Bayerische Räterepublik" ausriefen.
Die Dichter und Weltverbesserer legten umgehend los; offenbar ahnten sie, dass ihnen für ihren Traum von einer sozialistischen Gesellschaft der Menschenliebe nur wenig Zeit bleiben würde. Gustav Landauer zum Beispiel wollte Bayerns Schüler in Nachwuchspazifisten verwandeln; er verbot Hausaufgaben und ließ die Schüler die Gedichte Walt Whitmans lernen.
Dagegen wollte der Ökonom Silvio Gesell gleich den ganzen Kapitalismus zerstören, indem er den Zins abschaffte und das Geld "faulen" ließ, wie er es nannte. Anderen Mitgliedern der neuen Räteregierung kam die Realität vollends abhanden: Franz Lipp beschwerte sich als neuer Quasi-Außenminister telegrafisch beim Papst, sein Vorgänger hätte den Abortschlüssel mitgehen lassen; Sanitäter mussten den offenbar geistig Verwirrten in eine Irrenanstalt bringen.
Weidermann romantisiert die kurze Machtzeit der Literatur
Am Ende sollte es keine Woche dauern, bis die Dichter den wenn man so will, Profis in Sachen Revolution, Platz machen mussten, Eugen Leviné und seinen Kommunisten. Da war München längst von Freikorps-Verbänden und Armee-Einheiten aus Berlin umstellt – nach wenigen Tagen endete das Experiment mit der Rätedemokratie in einer Orgie aus Blut und Gewalt. Bis zu 1000 Tote soll es gegeben haben; viele der damaligen Protagonisten, der Menschenfreund Landauer ebenso wie der Hardcore-Kommunist Leviné, wurden ermordet oder hingerichtet. Andere wie Toller oder Mühsam kamen ins Gefängnis.
Trotz dieses Ausgangs lohne sich aber die Beschäftigung mit der Räterepublik, glaubt Volker Weidermann, und zwar gerade heute. "Selten, glaube ich, ist in der Geschichte so viel gutes, blauäugiges, weichherziges, liebevolles Denken in so kurzer Zeit in so brutale Gewalt umgeschlagen wie hier", meint Weidermann. Er glaubt, dass wir etwas aus der Literatur und von den Schriftstellern lernen können: "Wenn in der Zeit von heute, wo wir alle von Alternativlosigkeit umstellt sind, von diesem bürokratischen Denken, von den Institutionen, die fest gemauert sind, dann denke ich doch manchmal, wie schön wäre es, das Denken ein wenig zu befreien, etwas zu lernen aus der Geschichte, aus den Büchern, aber auch von diesen Typen, die so verantwortungslos sind, einfach frei zu denken und anders zu denken."
Nicht jeder wird wohl Weidermanns Begeisterung über den politischen Dilettantismus der Räte-Dichter teilen. Sein Buch großartig finden darf man aber trotzdem. Denn wie schon in dem Vorgänger-Buch "Ostende" erzählt der Kritiker auch von dieser "Weltsekunde der Literatur an der Macht" – aus verschiedenen Perspektiven.
Multiperspektivische Zeiten fungieren als Ausdruck des Chaos
Immer wieder springt Weidermann von Hauptfiguren wie Kurt Eisner zu Nebendarstellern wie Oskar Maria Graf oder zu Beobachtern wie Rainer Maria Rilke. Gestützt auf Tagebücher und Autobiografien, immer in der Gegenwartsform und mit einer großen Portion Empathie, verwandelt sich Geschichte so in einen packenden Film, ein Zeitmosaik, in dem nur weibliche Protagonisten etwas zu kurz kommen.
Weidermanns multiperspektivische Darstellung ist wie geschaffen für eine so dichte, chaotische Zeit, in der sich die Ereignisse überschlugen und den Akteuren immer wieder die Kontrolle entglitt. Spannend ist auch, wie unterschiedlich die Dichter auf die Revolution reagierten: Ein sonst so zeitenferner Ästhetizist wie Rilke war plötzlich ständig in den Versammlungssälen zu sehen.
Dagegen fürchtete Deutschlands repräsentativster Dichter Thomas Mann in seiner Villa am Herzogpark abwechselnd um sein Vermögen oder sein Leben. Zwischendurch fand zwar auch er die Revolution irgendwie großartig, am Ende jubelte er aber doch darüber, wie die Armee mit all den „landfremden“ jüdischen Elementen kurzen Prozess machte. "Alle Freunde von Thomas Mann müssen in dieser Phase wirklich stark sein", erklärt Volker Weidermann, " denn er war einfach vor allem auch ein brutaler Antisemit, der auch Wörter verwendete, die ihm später, wenn er sie jemals wieder gelesen haben sollte, selbst peinlich gewesen sein müssen, er sprach immer vom Ausmerzen und von den elenden Juden und von den Asphaltliteraten, die auszumerzen seien, mit denen ordentlich aufgeräumt werden müsse standrechtlich, also das war wirklich seine brutalste und unangenehmste Phase."
Menschheitsträume wurden zu Hass und Gewalt
Der allgegenwärtige Antisemitismus der Nachkriegszeit war sicher einer der Gründe, warum die Räterrepublik zum Scheitern verurteilt war. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet von dem Kriegsheimkehrer Adolf Hitler aus der Rätezeit keine judenfeindliche Äußerung überliefert ist. Denn ja, auch er war als Soldat vor Ort; ein Fotodokument beweist sogar seine Teilnahme am Trauerzug für den ermordeten Kurt Eisner.
Seinen späteren Selbstdarstellungen zum Trotz sei Hitler damals ein "Rädchen im Getriebe des Sozialismus" gewesen, betont Volker Weidermann und stützt sich dabei auf die Arbeiten des Hitler-Biografen Thomas Weber. Erst als die Räterepublik scheiterte, habe er die Seiten gewechselt, bei den neuen Machthabern Kameraden denunziert und judenfeindliche Reden gehalten. Man kann Volker Weidermann nur zustimmen: In dem Wendehals Hitler kristallisiert sich besonders dramatisch, wie sehr das, was als Verwirklichung großer Menschheitsträume begann, in unversöhnlichem Hass und Gewalt endete.