Der Schrecken in der Idylle
Auch den Schwaben Eduard Mörike hat man gerne missverstanden als braven Biedermeier-Autoren und Natur-Idylliker, der „Tännlein“ und „Rößlein“ besingt. Wer sich allerdings die Mühe macht, Mörikes Poesie genauer zu studieren, der dürfte zu einem ähnlichen Schluss kommen wie sein Dichterkollege Jan Wagner. In dem Essayband „Der verschlossene Raum“ schreibt Wagner über Mörike:
„Immer liegen Idylle und Schrecken dicht beieinander, er ist ihr eingeschrieben wie der Kindheit der Tod, und so ist der wahre Idylliker jener, der um die Zerbrechlichkeit des Refugiums weiß und erst deshalb seine Schönheit zu schätzen vermag, weil ihm die Angst selbst dort ans Herz fasst.“
Verweis auf Mörike als Auskunft in eigener Sache
Das ist durchaus als Auskunft in eigener Sache zu verstehen. Wenn sich Jan Wagner in seinem neuen Gedichtband einem so unscheinbaren Gegenstand wie dem Rettich widmet, dann schlummert selbst da, inmitten dieser Beschränkung aufs Gewöhnliche, ein Abgrund – die Tiefe, aus der man diesen mächtigen „Stoßzahn“ herausgezerrt hat. Wie ein Wilderer steht das Dichter-Ich vor der Rübe, dem marmornen „unterschenkel apolls“. Und am Küchentisch...
Schauerliche Doppelbödigkeit
So hebt "Die Live Butterfly Show" mit einer durchaus schauerlichen Doppelbödigkeit an, das neue Werk des letztjährigen Büchnerpreisträgers: mit einem Gedicht, das die poetologische Grundgestimmtheit Wagners in sich trägt – jeder Gegenstand, und sei er noch so gering, kann dem Gedicht Material sein. Und je genauer, je detaillierter man ihn zu fassen sucht, desto mehr offenbart ein solches Alltagsding, eine Pflanze, ein Tier jenen Ausschnitt von Welt, der – schlicht und klein – unterm Mikroskop des Dichters zu imposanter Größe anschwillt. Und, das nicht zuletzt, von unserem Dasein spricht. Auch von unserer Zeit. Und der Vergänglichkeit. Das Schöne ist nichts als des Transzendenten Anfang.
Etwas anderes lässt sich an diesem Eröffnungsgedicht ebenfalls ablesen: Die Lust am Spiel mit metrischen Formen, mit Reimen, unreinen und reinen; selten hält sich Wagner sklavisch an bestimmte Muster, aber immer beginnen seine Gedichte zu tanzen, in einem charakteristischen Rhythmus aufzugehen – Form und Inhalt eng umschlungen.
Jan Wagner ist immer wieder Anfeindungen ausgesetzt
Jan Wagner musste sich von jenen Dichterinnen und Dichtern, die sich der ominösen Avantgarde zugehörig fühlen, eine Menge Spott gefallen lassen – zumal er in den letzten Jahren mit Preisen geradezu überschüttet wurde und so zum Vertreter einer vermeintlich allzu kulinarischen Gegenwartslyrik stilisiert wurde. Gerade seine Bezugnahme auf tradierte Versformen machte ihn verdächtig, seine Vorliebe für einen poetischen Ton, in dem das Schwere an Gewicht verliert, federleicht erscheint. Harmlos und gegenwartsfern sei das. Sein Erfolg auch bei Leserinnen und Lesern, die sonst das Lyrische scheuen wie der Teufel das Weihwasser, löste zwar nicht bei der Kritik, aber in der jüngeren Lyrik-Szene Widerspruch aus. Als „Wunschschwiegersohn der deutschsprachigen Lyrik“ wurde er einmal bezeichnet, und man weiß nicht, ob das vergiftetes Lob oder sanfter Angriff ist.
Aber das sind doch nur Scharmützel, die weniger den Dichter treffen sollen als den vermeintlichen Repräsentanten einer etablierten Kultur. Die gebrochene oder besser: zerbrechliche Schönheit seiner Gedichte, die aus genauester Beobachtung und stetiger Verdichtung gewonnene Bildhaftigkeit seiner Verse, in denen wie bei Mörike eine tiefe, melancholische Skepsis lauert – das ist schlicht meisterlich.
Die strenge Form als Spielregel für freie Entfaltung
Was die Frage der Tradition angeht: Ja, auch im neuen Band huldigt Jan Wagner seiner Leidenschaft etwa fürs Sonett oder für die Sestine, jener strengen Form, in der sechs Strophen lang die Reimwörter der ersten immer wieder aufgenommen werden und die in einer dreizeiligen Schlussstrophe endet. Die Form, der er sich unterwirft, sei in Wahrheit aber gar nicht streng, hat Wagner oft betont: Wenn man vorgegebene Schemata nicht als Verpflichtung, sondern als Spiel begreife, lasse sich besonders frei agieren.
Jan Wagner macht daraus erstaunlich viel: Seine Formenpalette wurde schon erwähnt, und das thematische Spektrum ist ebenso weit und reich – die Gedichte widmen sich zum Beispiel einer Lampe, einem „vierzig-wattzentralgestirn“, deren flackerndes Licht ein Assoziationsspiel in Gang setzt, das ins Arktiseis führt und zu John Franklins Traum von einer Nordwestpassage. Es findet sich die hintersinnige „elegie auf einen lateinlehrer“, der morgen für morgen mutig vorrückt, „von den barbaren durch nichts getrennt als den hölzernen rhein der tische“. Oder ein Zyklus mit „kalifornischen sonetten“, poetische Botschaften an die Zuhause-Gebliebenen, die jene sechs Postkarten aus Kalifornien aufgreifen, die in seinem Essayband „Der verschlossene Raum“ enthalten sind:
Wagner zehrt wie schon in seinen früheren Gedichtbände nicht selten von Erinnerungspartikeln seiner Kindheit und spinnt sie mit Freude am überdrehten Witz fort: der Glastisch, in den der Sechsjährige fällt, „die erste aller Katastrophen“; der Onkel, der „an seinen hosenträgern“ hereinschwebt „wie ein prächtiger fesselballon“. Oder er besinnt sich jener Kapitäne, die an seinem Heimatort Ahrensburg zum Lebensabend anlegten, „schweigsame männer mit fischen im namen / einsilbig silbrig“, ankernd „in der witwenbucht“.
Solchen frühen soziologischen Beobachtungen folgen Lauschstudien: Mit lautem Gekrächz, „kein rokoko, ein rah-kra-kra“, humpeln Krähen um die Picknickdecken, und jede Strophe des „Krähenhymnus“ formt schon graphisch den Flügelschlag und rhythmisch das „klicken, klacken“ nach, wenn die „häretikertauben“ über das Blechdach des Gärtnerschuppens trippeln. Das sind nicht nur ungemein feine Lauteindrücke und Bilder, sondern das Gedicht selbst nimmt eine flatternde Gestalt an. Mit einem noch anderen, schlecht beleumundeten Tier hat es Jan Wagner ebenfalls: Der Marder wird auf seinem blutigen Raubzug in den Taubenschlag begleitet. Und die dem Band ihren Titel gebenden Schmetterlinge vollführen ihre Flugkunststücke – ganz wie nebenbei.
Naturlyrik, geprägt von Staunen und Witz
Kreaturen und Pflanzen finden also Eingang in diese Gedichte; Improvisationen über romantische Bildwelten und das Porträt eines alten Bikers im riesigen Montana stehen Seit an Seit; Ausflüge an den Ganges und zu entlegenen, fast jenseitigen irischen Inseln werden in wenigen Zeilen zu weltöffnenden Bildbänden. Subtile Lichtspiele und olfaktorische Reize sind zu erleben. Das Staunen angesichts der beobachteten Phänomene löst sich nicht selten in herrlich gewitzte, überraschende Wendungen auf. Denn Jan Wagner weiß nicht nur um die Geheimnisse der Natur, sondern auch um unsere Kleinheit und Ohnmacht. So parodiert er ein Geburtstagsgedicht, indem er den Wimpernschlag eines Menschenlebens mit einigen anderen Zeitdimensionen kontrastiert:
Das Berückende an Jan Wagners Texten ist die Verrückung des Blicks: Uns Lesern wird eine andere Perspektive auf das Vertraute gewährt. Das Übersehene öffnet sich, offenbart sich uns durch die so mühelos wirkende Kunst Wagners. Sein immer wieder durchscheinender Humor, der nicht unerwähnt bleiben darf, ist dabei nicht allein ein Lockmittel für den Leser. Er ermöglicht – ähnlich wie Wagners Faible für klassische Formen – Erkenntnis: Mit ihm durchdringt er oft das Schreckliche, das gerade im Alltäglichsten immer auch lauert. Er schärft die Wahrnehmung fürs Abseitige im Banalen.
Im Vorlesen entfaltet sich die Sinnlichkeit der Gedichte
Übrigens, zu guter Letzt, noch ein Rat an die Leserinnen und Leser: Man sollte Gedichte, diese aber ganz besonders, laut lesen – oder sich vorlesen lassen. Dann erst entfaltet sich ihre klangliche Sinnlichkeit und ihre rhythmische Raffinesse ganz und gar. Und ihr Zauber.