SWR2 Buch der Woche vom 20.5.2019

Anselm Neft: Die bessere Geschichte

Stand
Autor/in
Pascal Fischer

Anselm Nefts Roman „Die bessere Geschichte“ spielt das verschlungene Problem des Missbrauchs anhand eines erfundenen, reformpädagogischen Internats durch, in das der 13jährige Tilman Anfang der neunziger Jahre kommt.

Erstaunlicherweise ist dem Schriftsteller kein angestrengtes Debattenbuch, kein PR-wirksamer Schlüsselroman, sondern kluge, berührende Prosa gelungen. Wie der Protagonist langsam die Mechanismen, die Ambivalenzen und die Selbstlügen der Pädophilie begreift, ist packend und grandios beschrieben. 

Ein Satiriker, der aber auch die leisen Töne beherrscht

Anselm Neft könnte man zunächst als Satiriker verstehen. Ein Kurzgeschichtenband namens „Die Lebern der Anderen“ oder skurrile Details aus seinen Büchern wie Harzer Hitlerfans und rheinische Rollenspieler legen das nahe, oder überhaupt Buchtitel wie „Helden in Schnabelschuhen“.

Der 1973 geborene Autor organisiert in seiner Wahlheimat Hamburg Lesebühnen-Abende, hat Unmengen von Satiretexten für die Titanic und die taz geschrieben. Doch wer Anselm Neft trifft, erkennt einen ruhigen, nachdenklichen Menschen, der seine Worte sorgsam abwägt.

Existentielle Themen in ungewöhnlicher Verpackung

Und so geht es in vielen seiner Werke unter einer manchmal ungewöhnlichen Oberfläche oft um Existentielles: Wie Lebensgeschichten ein Individuum zusammenhalten, etwa in „Hell“. 2018 las er bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur einen Text über einen Obdachlosen. Und in „Vom Licht“ erzählte er von einer Kindheit in einer Sekte.

In eine ähnliche Richtung geht nun auch „Die bessere Geschichte“, ein Buch über Missbrauch in einem reformpädagogischen Internat. Doch der Autor, selbst Ex-Schüler des skandalgeschüttelten Aloisius-Kollegs in Bonn, hat alles andere als einen Schlüsselroman geschrieben.

Neft schreibt Prosa, die berührt

Um es gleich vorweg zu sagen: Das ist kein angestrengtes Debattenbuch, kein PR-wirksamer Schlüsselroman, sondern kluge, berührende Prosa.

Anselm Nefts Roman „Die bessere Geschichte“ spielt das verschlungene Problem des Missbrauchs anhand eines erfundenen, reformpädagogischen Internats durch, in das der 13jährige Tilman Anfang der Neunziger Jahre kommt.

Ein familiär vorbelasteter Junge wird zum Opfer

Neft schildert durch die Augen von Tilman nuancenreich, wie der Junge zum Opfer wird. Da ist Tilmans Vorbelastung: Die Mutter hat sich umgebracht, der kalte, formelle Vater ist mit der Erziehung überfordert und schickt Tilman in die Freie Schule Schwanhagen an der Ostsee. Tilman, ohne inneren Halt, ahnt, dass er hier neu anfangen kann.

Schon bald wohnt er mit dem leitenden Pädagogenpaar sowie zu elf Jugendlichen in einem Haus und saugt begeistert die Philosophie hier auf: Die Gesellschaft draußen lulle alle mit Tabus in einer Art Trance ein.

Grenzüberschreitungen werden für Tilman ins Positive verkehrt

Das bereitet den Weg für die Grenzüberschreitungen, die Tilman perfiderweise als Horizonterweiterungen erscheinen: Fotosessions mit nackter Haut, fast satanistische Drogenrituale, sexuelle Gefälligkeiten, Beischlaf.

Tilman will sich sogar selbst „umprogrammieren“ und ist ein Symbol für das Unheimliche am heutigen Trend der Selbstoptimierung.

Die Erkenntnis über den Missbrauch kommt spät

Es ist großartig, wie undurchsichtig sich Tilman über weite Strecken bleibt: Er verliebt sich in seine Mitschülerin Ella, ebenfalls Opfer, und versteht nicht recht, warum diese Liebe verdorren muss. Bewusst wird Tilman der Missbrauch erst 27 Jahre später – vielmehr: halbbewusst.

Ausgerechnet Tilmans Jugendliebe Ella will den Missbrauch von damals öffentlich machen, knüpft zu allen Mitschülern Kontakt – und das Opfer Tilman droht zum Täter zu werden, weil er sich in Ellas Tochter Lucia verliebt. Nahm der Roman im ersten Teil explizit auf Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ Bezug, so erinnert Teil zwei ohne Übertreibung in Motivik und höchst ambivalenter Sogwirkung an Vladimir Nabokovs „Lolita“. 

Die Muster des Missbrauchs wiederholen sich

Der Leser versteht die bittere Wahrheit: Pädophile suchen die eigene, verlorene Unschuld oft in einem verehrten Kind, weil ihnen der erwachsene Sex zu roh und verdreckt erscheint.

Trotz dieser Zweiteilung wirkt der Roman wie aus einem Guss, vielleicht auch, weil Neft die Motivkreise beherrscht:

Im Roman „Vom Licht“ erzählte er schon von christlichen Sekten, eine ähnliche Brüchigkeit von Realitätserfahrungen war im Roman „Hell“ zu spüren, und mit dem Satanismus hat sich Neft schon in seiner Magisterarbeit beschäftigt.

Klassische Bildung als Versatzstück der pädophilen Ideologie

Nicht ohne Grund schwafeln die Lehrer im Internat vom antiken Griechenland im Sinne vom pädagogischen Eros. Die klassische Bildung ist Teil der pädophilen Ideologie, von der hier offenbleibt, ob das alles heimtückisch eingesetzt oder schrecklich naiv von den Tätern geglaubt wird - beides sei möglich, erzählt Neft, der dazu viel recherchiert hat.

Verzicht auf stilistische Experimente

Für den komplexen Stoff hat der Autor klare, konservative ästhetische Entscheidungen getroffen. Das überrascht! Insbesondere, wenn man sich an seinen Text bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2018 in Klagenfurt erinnert.

Damals legte er mit „Mach's wie Miltos“ einen Text voller ineinander verschränkter Perspektiven und Realitätsebenen vor. Im neuen Roman erzählt Anselm Neft eher realistisch und allein aus Tilmans Sicht.   

Strikte Chronologie und kurze Sätze verstärken die Perspektive des Teenagers

Das Buch ist auch noch strikt chronologisch erzählt, obwohl der Stoff geradezu wie geschaffen wäre, Flashbacks einzusetzen, um zu zeigen, wie sich die Vergangenheit in und über die Gegenwart schieben kann. Außerdem sind die Sätze meist kurz, der Ton umgangssprachlich und einfach.

Das soll zum einen sicher Tilmans Naivität unterstreichen. Zum anderen verschlingt man das Buch deshalb aber geradezu wie einen echten Pageturner. Für Anselm Neft ist das freilich ein ambivalenter Effekt:

Wichtige Einblicke in die Mechanismen des Missbrauchs

Fast täglich, berichtet Anselm Neft, erreichen ihn Mails von Betroffenen, die gestehen, sie verstünden Angehörige besser – oder auch sich selbst. Dabei sind dem Buch insgesamt möglichst viele Leser zu wünschen.

Wie dieser sich selbst undurchsichtige Protagonist langsam die Mechanismen, die Ambivalenzen und die Selbstlügen der Pädophilie begreift, das ist packend und grandios beschrieben. 

 

Stand
Autor/in
Pascal Fischer