SWR2 Buch der Woche vom 16.10.2017

Fluch und Segen der Jahrtausende

Stand
AUTOR/IN
Claudia Kramatschek

Fluch und Segen der Jahrtausende

Die Balkanroute – der Autor Najem Wali ist auf ihr gereist. Der irakische Autor, der schon seit 1980 in Deutschland lebt, fährt zuerst zu den Flüchtlingslagern in Idomeni und auf Lesbos. Weiter geht es nach Osten. Wali entdeckt dabei eine Route, die schon immer „Schauplatz von bereicherndem Austausch und beraubender Vertreibung“ war. „Die Balkanroute“ ist keine Analyse zur gegenwärtigen Lage, sondern die Erkundung eines kulturellen Raums: historisch vertieft und persönlich erlebt.

Najem Wali flieht auf der Balkanroute – 1980

Vor 37 Jahren, am 28. Oktober 1980, flieht der aus dem Irak stammende Autor und Schriftsteller Najem Wali aus seiner Heimat. In Deutschland findet Wali eine zweite Heimat. Dort verfolgt er im Frühjahr 2016 die ewiggleichen Verlautbarungen der Medien über die sogenannte Flüchtlingskrise, mit der Deutschland seit dem Sommer 2015 ringt. Beschämt über den eigenen Wohlstand – und umgetrieben nicht zuletzt vom Wunsch, die Strapazen seiner Schwester nachzuvollziehen, die wiederum 2002 aus dem Irak geflohen war – bricht Najem Wali auf, um selbst jene Route zu bereisen, die noch immer eine der beiden großen Fluchtwege darstellt: die sogenannte Balkanroute. In seinem neuen Band "Die Balkanroute. Fluch und Segen der Jahrtausende" berichtet Najem Wali von dieser Reise.

2016 ist Wali wieder auf der Balkanroute unterwegs - von Westen aus

Bis Frühjahr 2016 endete die Reise vieler Flüchtlinge in einem Lager im griechischen Idomeni. Seinerzeit galt das Lager als Inbegriff für die menschenverachtende Verwaltung von Schutzsuchenden. Nunmehr endet sie auf der Insel Lesbos – die sich in eine Art grünes Gefängnis verwandelt hat. Auch der Schriftsteller Najem Wali reist 2016 an diese beiden Orte – allerdings aus umgekehrter Richtung, von Westen aus kommend. Dieser umgekehrte Blick ist entscheidend.

Denn Wali reist selbstredend ohne Zwang – die Freiheit, in der er lebt, erlaubt ihm, anderes zu sehen und wahrzunehmen. In seinem Fall ist dies vor allem das Echo einer reichen und geschichtsträchtigen Vergangenheit, das die Balkanroute, so schreibt Wali, wie einen "Resonanzkörper" umgibt. Schon seit „Jahrtausenden“ sei "die Balkanroute Schauplatz von bereicherndem Austausch und beraubender Vertreibung". Just in diesen Resonanzkörper, den Fundus der Geschichte, taucht Najem Wali im ersten Teil seines Bandes tief hinab – um die Gegenwart womöglich in ein anderes Licht zu tauchen.

Kultureller Austausch steht im Kontrast zu Flucht und Vertreibung

Wali durchschreitet dabei die wechselhafte Vergangenheit der Balkanroute mit Siebenmeilenstiefeln – und immer mit Blick auf quasi präfigurierende Urszenen von Flucht und Vertreibung. Alles beginnt für ihn – nein, nicht mit Odysseus, sondern mit Abraham, dem – Zitat – "Stammvater der Menschheit". Schon dieser muss fliehen: erst vor Krieg, dann vor drohender Hungersnot.

Es geht weiter mit dem babylonischen Reich, dann mit den Griechen, die von Milet aus den Grundstein für einen ersten großen kulturellen Austausch legen, der für die Balkanroute ebenso prägend wird wie Flucht und Vertreibung. Schon lesen wir von den Persern und Alexander dem Großen, dann von den Kreuzzügen, um schließlich über das Werk des großen Reisenden Ibn Battuta ins 20. Jahrhundert zu gelangen, wenn John Dos Passos 1921 auf den Spuren Ibn Battutas in Istanbul eintrifft, wo der Hass zwischen Griechen und Türken schon mit Händen greifbar ist.

Gegenwärtige Konflikte rücken in den Vordergrund

Zwei Jahre später, so Wali, werden Millionen Türken und Griechen zwangsumgesiedelt – nunmehr galt die Religion als Grundlage der Staatenzugehörigkeit. Schon sind wir mittendrin in gegenwärtigen Konflikten – die solchermaßen motivische Verzahnung von Gegenwart und Vergangenheit ist dabei poetologisches Prinzip: Erinnert nicht etwa die Sorge noch heutiger muslimischer Flüchtlinge, dass die Tochter in eine neue Kultur hineinheiraten könne, an Abrahams Freigabe der eigenen Frau um des Neuanfangs willen?

Das kulturell offene Milet ist zugleich Ort der ersten erzwungenen Auswanderung eines verbannten Intellektuellen – auch das fortan eine wiederkehrende Konstante. Immer wieder hat man bei der Lektüre Aha-Erlebnisse: wenn man etwa begreift, dass die Kreuzzüge nicht nur Tod und Zerstörung mit sich brachten, sondern zugleich den Aufstieg der italienischen Stadtstaaten beflügelten. Ob dagegen die Eroberungszüge Alexander des Großen tatsächlich im Dienste kultureller Durchmischung standen, sei ebenso dahin gestellt wie der Vergleich heutiger islamistischer Djihadisten mit den christlichen Kreuzrittern.

Das Motiv von alt und neu steht im Fokus

Deutlich aber tritt ein Motiv hervor, das zum entscheidenden Scharnier wird zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart: Es ist der Kampf zwischen Altem und Neuem – der in einer unendlichen Bewegung immer wieder Flucht und Neuanfang, Weg- und Zuzug generiert.

Es ist eine Bewegung, die sich nicht aufhalten lässt. Auch daran erinnert Najem Wali, allemal angesichts der Schicksale, die er im zweiten Teil seines Bandes festhält, basierend auf Begegnungen mit Flüchtlingen – und den Profiteuren der Flucht – in Idomeni und auf Lesbos. Das Fazit, das er daraus zieht, ist gewagt – und dem Schriftsteller in ihm geschuldet: Unwichtig sei letztlich, so Wali, was aus den Träumen all dieser Menschen wird. Wichtig sei, dass sie träumen – da der Traum sie am Leben hält. Wäre das die Wahrheit, es wäre eine schreckliche. Deshalb hilft derzeit manchmal einzig der Blick in die Vergangenheit – und in Bücher wie „Die Balkanroute“.

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Claudia Kramatschek