Buch der Woche vom 28.08.2017

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

Stand
Autor/in
Claudia Kramatschek

Ein Blutbad als Einstieg: Zwei Kleinkinder wurden ermordet. Die Nanny aus der Unterschicht war's. Was als Thriller beginnt, entpuppt sich schnell als hochpräzise Beschreibung der französischen Klassengesellschaft. Völlig zu Recht hat Leïla Slimani für ihren Roman „Dann schlaf auch du“ 2016 den renommierten „Prix Goncourt“ erhalten. Jetzt liegt der Roman auch auf Deutsch vor.

Mit dem zweiten Buch gelang Slimani der Durchbruch

Dotiert ist er mit nur 10 Euro - und doch gilt er als einer der wichtigsten Literaturpreise. Die Rede ist vom Prix Goncourt, der jedes Jahr im Herbst die französische Literaturwelt Kopf stehen lässt. 2016 ging der Preis an die französisch-marokkanische Autorin Leila Slimani und ihren Roman „Dann schlaf auch du“.

Slimani kam 1981 in Rabat zur Welt, wuchs in Marokko auf, studierte danach an einer Pariser Eliteuniversität, und arbeitete anschließend als Journalistin für „Jeune Afrique“. 2014 debütierte sie mit einem Roman über eine junge gebildete Frau aus der Oberschicht, die als Nymphomanin mit den Erwartungen ihres Umfelds bricht. Ihr zweiter Roman „Dann schlaf auch du“ – inzwischen in mehr als 30 Länder übersetzt – liegt nun auch im Deutschen vor.  

Kein Roman für sanfte Gemüter

Noch. Denn auch die Kleine wird sterben. Man darf das verraten. Auch die Autorin verrät es, bereits nach wenigen Seiten. Überhaupt machen schon diese ersten Sätze, mit denen Leila Slimani ihren Roman eröffnet, unmissverständlich klar: Für sanfte Gemüter ist das nichts. Hier geht es zur Sache. Vom einlullenden Titel des Romans – den des französischen Originals „Chanson douce“ könnte man gar als „Wiegenlied“ übersetzen – sollte man sich deshalb nicht in die Irre führen lassen. Slimani will ihre Leser vielmehr aus jeglicher träumerischen Versunkenheit reißen. „Dann schlaf auch du“ ist nämlich trotz des schrecklichen Anfangs nur vordergründig ein Kindsmord-Roman.

In Wirklichkeit seziert Slimani die Abgründe der von Rasse und Klasse noch immer zutiefst geprägten französischen Gesellschaft, in der Migranten aus Afrika und dem Rest der Welt die Basics erledigen, damit metropolitane Selbstverwirklicher sich um ihre Karrieren kümmern können. Zu ihnen zählen auch Myriam und Paul, zuhause in Paris, im schönen zehnten Arrondissement – sie sind die Eltern der ermordeten Kinder. Ermordet wahrscheinlich von jener Nanny, die Paul und Myriam einstellten, um endlich freie Hand zu haben, wie Paul es seinerzeit nüchtern formuliert:

Nanny Louise wird zur Lösung der Probleme

Mehrere Frauen stellen sich vor. Diejenige, die bleibt, ist Louise. Mit über 40 wirkt sie noch immer wie eine kleine zerbrechliche Puppe. Zwar hat sie selbst eine Tochter, doch die ist längst aus dem Haus. Der Mann ist schon länger tot – und so steht Louise zur Verfügung, bei Bedarf Tag und Nacht. Myriam und Paul sind glücklich: Sie möchte endlich wieder als Anwältin arbeiten, von den Kindern fühlt sie sich wie ausgesaugt. Er ist freiberuflicher Musikproduzent und rund um die Uhr beschäftigt.

Tatsächlich scheint Louise der Engel, auf den sie gewartet haben: Rasch lebt sie sich ein, die Kinder hat sie von Anfang an im Griff, zum ersten Mal versinkt die Wohnung nicht mehr im Chaos. Die Perfektion, mit der Louise die Wohnung übernimmt und sich selbst alsbald unentbehrlich macht, grenzt dabei ans Unheimliche – und Leila Slimani verhehlt es nicht.

Die dunkle Vergangenheit von Louise verändert alles

Seite für Seite legt sich etwas immer Dunkleres, Bedrohlicheres über das Glück. Seite für Seite enthüllt Slimani Louises Geschichte. Es ist eine Geschichte von häuslicher Gewalt, von Verarmung, Verschuldung und Vereinsamung, von Klassenunterschieden und Diskriminierung. Nichts wird hier ausbuchstabiert; auch Louises Herkunft bleibt bewusst im Dunkeln. Eines aber begreift man: Louise, der fürsorgliche Engel, ist in Wirklichkeit am Rand der Verzweiflung. Aus eben dieser Verzweiflung heraus wächst in ihr jene Obsession, die am Ende womöglich allen zum Verhängnis wird: Ein neues Baby, so Louises Plan, muss her – damit sie weiterhin bei Paul und Myriam arbeiten und der eigenen Ausweglosigkeit entkommen kann.

Längst schon wollen Paul und Myriam sie loswerden – vorbei sind die Zeiten, da sie Louise gönnerhaft mit in den Urlaub nahmen und Myriam ihr ausgediente Kleider schenkte, während sie scheinbar taktvoll die eigenen Neuerwerbungen erst auspackte, wenn Louise die Wohnung verlassen hat. Großartig entlarvt Slimani im Spiegel solcher kleinen Szenen, wie nebenbei die widerliche Melange aus politischer Korrektheit und verlogenem Paternalismus, die noch immer den Graben zwischen den Klassen insbesondere in Frankreich markiert. 

Slimani trifft mit "Dann schlaf auch du" einen Nerv bei der französischen Bevölkerung

Man kann sich insofern nur wundern, dass der Roman dort ein Bestseller war – übrigens schon vor dem Prix Goncourt. Offenbar trifft er einen Nerv – gesellschaftlich wie literarisch. Denn die Ausweitung der Kampfzone, was heißt: krasse Wirklichkeitsbezüge in einer ebenso krassen literarischen Drastik, hat schon länger Einzug gehalten in den französischen Roman.

Krass ist bei Slimani einzig das Eröffnungskapitel. Und doch dürfte zum Erfolg gerade der nonchalant unterkühlte Ton der Autorin – die selbst doch so zierlich und fragil wirkt – beigetragen haben, mit dem sie die Fäden ihres Romans bis zum Ende fest in der Hand hat. Dass dem so ist, ist das einzige Fragezeichen, das über dem gekonnt konstruierten Roman schwebt: Denn Slimanis Figuren sind nicht so sehr als einzelne Individuen, sondern eher soziologisch angelegt. Spielraum lässt die Autorin ihnen und uns nicht – auch wenn im Verlauf der Rekonstruktion des Verbrechens mehr und mehr Stimmen aus Louises Umfeld eingeblendet werden.

Das Verbrechen selbst wird am Ende nicht geklärt. Genau das macht den Roman, den Amelie Thoma in ein so makelloses wie eisig-kaltes Deutsch übertragen hat, schwer verdaulich: Seinem Reiz und seiner Wucht kann man sich nicht entziehen. Und doch hinterlässt er das eigenartige Gefühl, dass man ebenso an Leila Slimanis Strippe hängt wie Myriam, Paul und die Kinder an Louise.

Stand
Autor/in
Claudia Kramatschek