Die größte Angst seiner Eltern sei gewesen, ihr Sohn könne irgendwann zur Feder greifen, Politiker oder Journalist werden. In ihrem Weltbild sind sie alle Todgeweihte. So schreibt Artur Weigandt in dem kurzen Vorspann zu seinem Buch „Die Verräter“.
Aber genützt hat es nichts. Artur Weigandt ist Journalist geworden, mittlerweile preisgekrönt. Und im Grunde genommen haben die Eltern ihm diesen Weg geebnet, als sie 1995 ihr Dorf Uspenka in der kasachischen Steppe Richtung Deutschland verließen. Der Vater hat deutsche Vorfahren, die Mutter belarussische und ukrainische Wurzeln.
Uspenka wurde 1911 von ukrainischen Deportierten gegründet. Ein Dorf der Enteigneten, Unterdrückten und Geflüchteten, so Weigandt. Nun habe Russland seine Aggression erneut gegen die Ukrainer gerichtet. Sein Buch ist die Antwort auf diesen Überfall. „Der 24. Februar ist wie eine Nulllinie“, lautet der erste Satz. „Sie trennt Freund und Feind.“ Der Krieg zerreißt Familien und beendet Freundschaften.
Darüber zu schreiben, so kann man den Autor verstehen, ist unausweichlich. Gleichzeitig aber, notiert Weigandt im Nachspann, fühle es sich an wie ein „Verrat an der russischen Welt“. Leitmotivisch durchzieht das Wort „Verrat“ seinen Text wie eine schmerzliche Dissonanz.
Im Klappentext wird das Buch als „journalistischer Heimatroman“ bezeichnet. Das kennzeichnet nur unzureichend die Form, die aber entscheidend ist für die Wirkung des Textes. Das Buch ist kein Roman. Es ist in einem autobiografischen Reportagestil verfasst, den man durchaus in der berühmten Erzähltradition Joan Didions sehen kann. Artur Weigandt schreibt in der Ich-Form, als Beobachter, Reisender und bekenntnishaft Betroffener. Rückblicke auf die Geschichte und den Verfall Russlands wie auch eigene Erinnerungen verbindet er mit Einblicken in Lebensgeschichten von Familienmitgliedern und Freunden. Berichtsstil und Dialogform wechseln sich ab. So oszilliert der Text gekonnt zwischen Nähe und Distanz.
Fluchtpunkt des Erzählten bleibt dabei immer Uspenka, die Heimat ex negativo. Das Dorf, wie Weigand schreibt, in das Stalin die „Verbrecher, die politischen Feinde, die Russlanddeutschen schickte“. Später kamen die Verstrahlten aus Tschernobyl hinzu. In seinen Rückblenden porträtiert der Autor das Dorf als Ort der Hoffnungslosigkeit, in dem das sinnlose Betrinken, die materielle Not, aber auch die selbstlose Hilfe den Alltag bestimmten.
In der Jetztzeit nimmt Artur Weigandt Kontakt zu versprengten Familienmitgliedern und Freunden auf. Er reist zu Beginn des Krieges nach Kiew, um seinem Freund Wadim bei der Flucht vor dem Kriegseinsatz zu helfen. Außerdem versucht er, seinen Cousin Ilja davon zu überzeugen, Russland zu verlassen, bevor es zu spät ist. Aber der Cousin weigert sich und glaubt ihm nicht.
Weigandt zitiert auch seine Eltern, die sich von der zunehmenden Russland-Nostalgie ihrer Freunde und Verwandten abgestoßen fühlen. Eine davon ist Eugenia aus Uspenka, die im Süden Deutschlands eine neue Bleibe fand.
Der hier geschilderte Besuch des Autors bei der alten Dame gehört zu den gelungensten Kapiteln dieses Buches. Eugenia schaut ausschließlich russisches Staatsfernsehen und behauptet nach verordneter Denkweise, in Kiew säßen nur Nazis. Auf wenigen Seiten wird hier die ideologische Verblendung der Frau wie auch die unüberwindbare Distanz zwischen den beiden spürbar. Am Ende ihres ausweglosen Gesprächs bezichtigt Eugenia ihren Besucher des Verrats.
Der Verrat ist in Artur Weigands Buch die unausweichliche Bürde aller, die Russland den Rücken kehrten. Es ist bewegend zu lesen, wie dieser Autor als Kind der postsowjetischen 90er Jahre nach seinem Platz sucht – hin- und hergerissen zwischen dem Erinnerungs- und Sehnsuchtsort Uspenka und Deutschland, der noch immer etwas fremden neuen Heimat.