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Angelos Chaniotis – Emotionen und Fiktionen. Gefühle in Politik, Gesellschaft und Religion der griechischen Antike

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Autor/in
Andrea Gnam

Der Althistoriker Angelos Chaniotis, der in Princeton lehrt, erklärt in seinem Buch über Gefühle in der griechischen Antike, wie Emotionen gezielt zur Herrschaftssicherung und Selbstdarstellung eingesetzt wurden.

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Zeugnis davon legen Inschriften ab, die über den gesamten hellenistischen Raum verbreitet waren.

„Möget ihr leben und euch an ihn erinnern“, so lautet noch heute in Griechenland der tröstende Zuspruch für die trauernden Hinterbliebenen. Inschriften aus der antiken hellenistischen Welt und ganz besonders Grabinschriften für Verwandte oder Sklaven sind für Angelos Chaniotis das aussagekräftigste, aber nicht alleinige Material für die Erkundung von Emotionen.

Ein Historiker, so erklärt der renommierte, in Griechenland aufgewachsene Althistoriker, beschäftigt sich weniger damit, was die Menschen vielleicht gefühlt haben mögen. Ihn interessiert vielmehr wie Gefühle geweckt und gelenkt werden.

Im antiken Griechenland kommunizierten die Staatsmänner nicht nur über Reden, sondern auch über Inschriften mit dem Volk. Dabei standen starke Gefühle im Vordergrund: Der Herrschende hielt mit seinem angedrohten Zorn das Volk in Schach, indem er Furcht erzeugte.

Antike Machtstrategie: Zorn und Schutz

Im Gegenzug muss er beim Volk aber auch Hoffnung auf Schutz und Stabilität wecken. Diese Machtstrategie verband Herrscher und Beherrschte und machte sie wechselseitig voneinander abhängig. Das Altgriechische besitzt nuancierte Begriffe für Gefühlszustände wie Zorn und Furcht.

Emotionen wie Eros, die Liebe, Phobus, die Angst, Mania, die Raserei oder Hedone, die Lust wurden personifiziert, die Begriffe finden sich noch heute in unserem Sprachgebrauch. Den theatralisch zur Schau gestellten Zorn der Herrscher und noch mehr den Zorn der Götter fürchtete man zwar, aber das Volk fand auch Möglichkeiten, den Zorn der Machthabenden gegen die eigenen Gegner zu wenden.

Das Volk nutzt die Macht der Herrscher für eigene Zwecke

Man musste nur die Mächtigen dazu bringen, einzugreifen, indem man direkt an ihre leicht zu gefährdende Autorität appellierte. Chaniotis schildert das Vorgehen eines Rechtsbeauftragten, der die Übergriffe auf ein Dorf der römischen Besatzungsmacht melden sollte. Er stellt die Aggressionen nicht als Angriffe gegen das Dorf dar, sondern als Verletzung der Autorität des Gesetzgebers, wie eine noch erhaltene Inschrift bezeugt.

„Wenn die Kaiser nicht handeln, so die unterschwellige Nachricht, so untergraben sie selbst ihre Herrschaft“, kommentiert Chaniotis diese Strategie und weist ganz am Ende darauf hin, dass bis heute bei politischen Konflikten ähnlich agiert wird. Ebenso verfuhr auch eine Frau, der wertvolle Gegenstände gestohlen worden waren. Sie wendet sich hilfesuchend an eine Gottheit und weiht ihr die verlorenen Sachen.

Die Inschrift auf der Stele im Heiligtum bringt unverblümt zum Ausdruck, was sie von diesen „vergifteten Weihegeschenken“, wie Chaniotis solche Ansinnen nennt, erwartet: Die mächtige Göttin soll diejenigen bestrafen, welche die ihr übertragenen Geschenke unrechtmäßig an sich genommen hatten. Das geschehe auch im persönlichen Interesse der Göttin: Sie möge „gemäß ihrer eigenen Machtfülle“ eingreifen, „damit sie nicht ausgelacht wird“.  

Besonders aufmerksam liest Chaniotis die Grabinschriften von Sklaven für ihre Herren und der Herren für ihre Sklaven. Grabinschriften sind sorgfältig komponiert und, wie Chaniotis es ausdrückt, für die Nachwelt „gefiltert“.

Grabinschriften appellieren an das Mitgefühl der Lebenden

Der Sklaverei soll ein menschliches Antlitz verliehen werden, indem die Güte des Herrn gezeigt wird, der seine Sklaven und Sklavinnen betrauert. Zugleich aber wird im Lob auf einen Sklaven aber auch ausgedrückt, was man von ihm erwartet: Treue, Vertrauen, Ehrlichkeit. Antike Grabinschriften für Verwandte und besonders für Kinder appellieren an das Mitgefühl unbekannter Passanten oder wie es in der Übersetzung gerne heißt, Wanderer.

Chaniotis kluges Buch zeichnet ein facettenreiches und berührendes Bild verschiedenster Emotionen und bietet zugleich eine glänzende Analyse antiker Herrschaftstechniken, wie sie im Medium der Inschriften zu Tage treten.

Und wer selbst noch auf Reste eher ungeliebten humanistischen Schulwissens zurückblicken kann, wird überrascht sein, welch tiefgreifende Einblicke in das Wechselspiel von Macht, Manipulation und Abhängigkeit eine historisch fundierte Beschäftigung mit antiken Texten ermöglichen kann.

Buchkritik Angelos Chaniotis - Die Öffnung der Welt. Eine Globalgeschichte des Hellenismus

Der Princeton-Historiker Angelos Chaniotis beschreibt das Zeitalter des Hellenismus als erste Globalisierung; damit zeigt seine historische Darstellung interessante Parallelen zur Moderne auf. Rezension von Christoph Fleischmann. Aus dem Englischen von Martin Hallmannsecker Verlag wbg theiss, Darmstadt 2019 ISBN 978-3-8062-3993-5 544 Seiten 35 Euro

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