Den polnischen Autor Andrzej Stasiuk hat man bei uns zuletzt vor allem als politisches Schwergewicht wahrgenommen. Spätestens seit 2014 hat Stasiuk nachdrücklich vor Russlands imperialen Bestrebungen gewarnt. Er hat nichts unversucht gelassen, uns zu erklären, wie Putin den Umgang Deutschlands mit der eigenen Kriegsschuld für seine Ziele zu nutzen weiß.
Stasiuks Erzählkunst geriet indes ein wenig in Vergessenheit. Nun liegt nach längerer Pause wieder ein Roman von ihm vor. Das 2021 in Polen erschiene Buch ist jetzt unter dem Titel „Grenzfahrt“ auf Deutsch erschienen. Stasiuk erzählt darin vom Zweiten Weltkrieg, vom Leben im besetzten Polen und was davon in der heutigen Erinnerung seiner Landsleute übrigbleibt.
Die Geschichte beginnt im späten Frühjahr des Jahres 1941. In der abgelegenen polnischen Provinz am Ufer des Bugs gerät der Alltag aus den Fugen. Seit knapp zwei Jahren teilt der Fluss die Gegend in zwei Besatzungsgebiete. Auf der einen Seite herrschen die Deutschen, auf der anderen Seite die Sowjets, so wie es im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verabredet worden war. Nun drängen sich auf deutscher Seite immer mehr technisch hochgerüstete Einheiten der Wehrmacht zusammen. Auch wenn es Stalin nicht wahrhaben will, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion ist nur noch eine Sache von Tagen. Die Menschen am Bug versuchen, sich einen Reim auf die Lage zu machen.
Bauern lavieren zwischen Besatzern und Partisanen, die von ihnen Unterkunft und Lebensmittel fordern. Der Untergrundsoldat Siwy, polnisch national und autoritär, führt eine bunte Schar junger Männer an, die irgendetwas gegen die Besatzungsmächte unternehmen sollen, aber noch keinen Plan haben. Ein junges jüdisches Geschwisterpaar aus bürgerlichem Stadtmilieu verbirgt sich in Wald und Scheunen vor seinen Häschern. Birobidschan, das autonome jüdische Gebiet im fernen Osten Russlands, ist ihr Ziel. Lubko, der Fährmann, bringt sie alle des Nachts über den Fluss und wieder zurück, wenn sie dafür zahlen und wenn er gerade willens ist, das Risiko für eine solche Überfahrt auf sich zu nehmen. In seinem Roman „Grenzfahrt“ erzählt Stasiuk zahllose Alltagsgeschichten aus dem Juni 1941, schlägt aber auch immer wieder einen Bogen zur Gegenwart. Diese Gegenwart verknüpft er lose und recht assoziativ mit dem historischen Hauptstrang. Der Erzähler wechselt in diesen Passagen in die Ich-Perspektive. Immer wieder unternimmt er lange Fahrten durch das Land, um seinen Vater zu besuchen. Gern würde er mehr über dessen Kindheit in jenen Gegenden während des Zweiten Weltkriegs erfahren. Doch der alte Mann ist stark verwirrt und erinnert sich an kaum etwas.
„Grenzfahrt“ ist ein Roman, der die Emotionen anspricht. Der Schrecken von Krieg und Besatzung vermittelt sich in den Details. Allenthalben beschwört der Erzähler Geräusche und Gerüche. Das beängstigende Rattern der deutschen Vernichtungsmaschinerie im Hintergrund, der Geruch der Bauern, der Angstschweiß der Herumirrenden, Wut und Angst des Schweins, das seinem Schlächter noch ein Stück Fleisch aus dem Körper reißt – schwärende Wunden zwischen plötzlichen Liebesakten. Stasiuk schaut genau auf seine Figuren, wertet sparsam und verurteilt nicht. Auf der Gegenwartsebene begegnet sein Ich-Erzähler während seiner Fahrten durch die Provinz auf Schritt und Tritt dem aktuellen Heldenkult um die polnischen Kämpfer des Zweiten Weltkriegs. Seit Jahren betreibt ihn die nationalkonservative PiS-Regierung unter Jarosław Kaczyński. Stasiuk bleibt auf Distanz zu allen offiziellen Heldensagen. Mitunter begegnet er ihnen mit Ironie. Zugleich versucht er zu verstehen, warum dieser polnische Kriegs- und Heldenkult Jahrzehnte nach dem historischen Geschehen wieder aufleben konnte oder musste.
Mit seinem neuen Roman knüpft Andrzej Stasiuk nach längerer Zeit an die sinnliche Kraft und atmosphärische Dichte des erzählerischen Frühwerks an. „Grenzfahrt“, in der hervorragenden Übersetzung von Renate Schmidgall, ist eine Lektüre, die den Leser nicht mehr loslässt.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp Verlag, 335 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-518-43126-9