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Alia Trabucco Zerán – Mein Name ist Estela

Stand
Autor/in
Eva Karnofsky

Ein siebenjähriges Mädchen aus einer wohlhabenden Familie ist tot. Das Hausmädchen Estela sagt zu den Geschehnissen aus.

Der Roman „Mein Name ist Estela“ ist das spannende Protokoll ihres Berichts. Die chilenische Autorin Alia Trabucco Zerán webt daraus Estelas Lebensgeschichte und das erschütternde Psychogramm einer Familie. Dies erlaubt einen Blick auf eine zutiefst gespaltene Leistungsgesellschaft.

Estela García sitzt allein in einem Vernehmungsraum, vermutlich in einem chilenischen Gefängnis. Sie ist Hausmädchen. Das Kind, um das sie sich kümmern sollte, ist gestorben. Trägt Estela die Schuld am Tod der siebenjährigen Julia? Sie beginnt zu erzählen und legt ihre Sicht der Dinge zum Tod der Kleinen dar. In der Hoffnung, dass man sie danach freilässt.

In Alia Trabucco Zeráns Roman „Mein Name ist Estela“ spricht Estela selbst, und das klingt wie das Protokoll ihrer Aussage. Estela wendet sich direkt an die Personen, wahrscheinlich von Polizei oder Staatsanwaltschaft, von denen sie glaubt, dass sie ihren Ausführungen folgen. Meine Freunde, nennt sie sie, weil sie sie für unparteiisch hält. Ob zu Recht, muss sich herausstellen.

Einer wohlhabenden Familie völlig ausgeliefert

Estela holt sehr weit aus, um zu erklären, wie und warum die siebenjährige Julia starb. Es begann damit, dass Estela von der Insel Chiloé im Süden Chiles vor sieben Jahren in die Hauptstadt Santiago kam, um als Hausmädchen ihr Geld zu verdienen. Damals war sie Anfang dreißig. Sie heuerte bei Julias Eltern an und rutschte in ein Arbeitsverhältnis, wie es für Hausangestellte typisch ist.

Über deren Rolle in Lateinamerika sind bereits etliche Romane und Sachbücher erschienen, und es ist bekannt, dass sie lange Arbeitstage haben, meist schlecht bezahlt und oft auch schlecht behandelt werden.

Doch geht es der Autorin nicht um arbeitsrechtliche Aspekte. Sie leuchtet vielmehr die psychologische Seite aus: Wie es sich für eine erwachsene Frau anfühlt, sechs Tage die Woche und 24 Stunden am Tag in einer fremden Familie zu leben, der sie zwar nicht angehört, der sie aber rund um die Uhr zur Verfügung stehen muss.

Estela braucht den Lohn, weil sie ihre Mutter finanziell unterstützt. Oft will sie kündigen, doch immer wieder zögert sie es hinaus: Ein streunender Hund, den sie heimlich in die Waschküche lässt, hält sie zurück. Vor allem aber hat sie fast unmerklich Zuneigung zur kleinen Julia entwickelt.

Was die Autorin sehr einfühlsam schildert. Das Kind kam kurz nach Estelas Ankunft zur Welt. Seine Eltern, der Vater ist Arzt, die Mutter Rechtsanwältin, lassen es weitgehend in Estelas Obhut. Doch manchmal mischen sie sich in ihre Erziehung ein.

Leistungsdruck und Turbokapitalismus in Chile

Die Eltern sind Nutznießer eines Turbokapitalismus ohne soziale Rücksichtnahme, den die bis 1989 herrschende Militärdiktatur eingeführt hat. Seither herrscht ein unbarmherziger beruflicher und gesellschaftlicher Konkurrenzkampf, der sich bis heute auch in den Familien niederschlägt: Es geht nur noch darum, dem gesellschaftlichen Druck standzuhalten und die Kinder entsprechend darauf vorzubereiten.

Sehr bewegend arbeitet Alia Trabucco Zerán heraus, wie Julias Eltern versuchen, ihre Tochter schon im Kindergartenalter zu Höchstleistungen zu zwingen und dabei keinerlei Rücksicht auf Gefühle nehmen. Die kleine Julia hat, wie auch Estela, sehr unter der emotionalen Kälte der Eltern zu leiden.

Eine Klassengesellschaft – klischeefrei geschildert

Bereits in ihrem Roman „Die Differenz“ hat die Autorin sich mit den Nachwirkungen der Diktatur auf die nachfolgende Generation beschäftigt, und im Roman „Mein Name ist Estela“ knüpft sie daran an. Chile galt schon immer als Klassengesellschaft, doch in den sechzehn Jahren unter Militärdiktator Augusto Pinochet hat sie sich in den Köpfen der Menschen weiter verfestigt. Das lässt die Autorin anklingen, wenn ihre Estela das Zusammenleben mit der Familie beschreibt.

Die große Stärke des Romans ist dabei, dass er nicht in Klischees verfällt. Die fiktive Familie und ihr Hausmädchen sind durchaus realistisch geschildert. Und auch mit Estelas ruhiger Art zu berichten, hat die Autorin den Ton einer bodenständigen Frau aus dem chilenischen Süden getroffen. „Mein Name ist Estela“ ist ein Pageturner, denn bis zur letzten Seite fiebert die Leserschaft der Aufklärung der Todesumstände des Mädchens entgegen, und sie will wissen, was aus Estela wird.

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Rezension von Peter B. Schumann.
Ch. Links Verlag, 256 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-96289-196-1

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