Vater, Mutter und Tochter wurden von den Nazis deportiert
Es ist ein besonderer Tag für Schauspielerin Eleanor Reissa: Vor der Silberburgstraße 88 in Stuttgart-West werden Stolpersteine für ihren Vater, seine erste Frau und die beiden gemeinsamen Kinder verlegt. Es war der letzte Wohnort der Familie in Stuttgart, die vier Steine sollen an ihre Schicksale erinnern.
Der Sohn der Familie, Heinrich Schlüsselberg, wurde Ende der 1930er-Jahre mit einem Kindertransport nach England geschickt und überlebte dort den Weltkrieg. Vater, Mutter und Tochter wurden von den Nazis deportiert. Nur der Vater, Chaskel Schlüsselberg, überlebte das Vernichtungslager Auschwitz und den Todesmarsch 1945, bevor er im KZ Buchenwald durch die US Army befreit werden konnte.
Nach dem Krieg lernte Schlüsselberg in Ulm seine zweite Frau kennen. Beide emigrierten in die USA und lebten schließlich in New York. Dort wurde Eleanor Reissa 1953 geboren.
Erfolgreiche Bühnen-Karriere in den USA
Dass ihre Wurzeln teilweise in Stuttgart liegen, wusste Reissa viele Jahre nicht. In den USA steht sie seit Ende der 1970er-Jahre als Schauspielerin und Sängerin auf der Bühne.
Außerdem hat sie als Regisseurin und Choreografin zahlreiche Stücke am Broadway in Szene gesetzt. Für ihre Inszenierung von „Those Were the Days“, einer englisch-jiddischen Musical-Revue, war Reissa 1991 sogar für den renommierten Tony Award nominiert.
Darüber hinaus schreibt sie auch Theaterstücke und tritt als Sängerin auf, vor allem auf Jiddisch. Da in ihrer Familie nur Jiddisch gesprochen worden sei, bezeichnet Eleanor Reissa sie auch als ihre Muttersprache. Auch in ihrer Rolle als Lilka Zweifler in der preisgekrönten ARD-Serie „Die Zweiflers“ spricht Reissa vor allem Jiddisch.
Mit Liebesbriefen ihres Vaters begann die Recherche
Deutsch hatte die Schauspielerin nie gelernt. Deshalb konnte sie mit den Briefen, die ihr Vater ihrer Mutter nach dem Krieg geschrieben hatte, auch anfangs nur wenig anfangen. Eleanor Reissa fand die Briefe nach dem Tod ihrer Mutter Mitte der 1980er-Jahre in deren Wäscheschrank.
Erst dreißig Jahre später ließ Reissa die Briefe übersetzen und war tief berührt von der Sprache ihres Vaters: „In New York arbeitete er in einer Fabrik, sprach schlecht Englisch, und ich dachte, er ist ein Looser“, erinnert sich die Schauspielerin. „Aber diese Briefe auf Deutsch waren so poetisch und ich dachte: ‚Wer hat das geschrieben?‘“
„The Letters Project“: Ein Buch über die Reise in die Vergangenheit
Die Briefe waren für Eleanor Reissa schließlich der Beginn einer Recherche der eigenen Familiengeschichte in verschiedenen Archiven und in Stuttgart, wo ihr Vater lebte. Hier arbeitete er als Kaufmann und hatte ein kleines Geschäft. Als Eleanor Reissa zum ersten Mal nach Stuttgart reiste, blieb sie nur wenige Tage. Sie fühlte sich aber direkt zu Hause, erzählt sie.
Von ihrer Halbschwester und der ersten Frau ihres Vaters erfuhr die amerikanische Schauspielerin auch erst durch ihre Recherchen. „Ich war geschockt. Er hat nie von ihnen gesprochen“, sagt Reissa. Über ihre Reise in die Vergangenheit hat die Schauspielerin schließlich auch ein Buch geschrieben, „The Letters Project: A Daughter’s Journey“.
Schon viele Jahre hat Eleanor Reissa immer wieder über ihre Familie geschrieben, auch Theaterstücke. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern anonym bleiben, das habe sie angetrieben, sagt Reissa. „Ihr Leben war schrecklich. Deshalb wollte ich immer über sie sprechen, damit die Welt weiß, dass es solche Menschen gab.“
Familien-Andenken in ARD-Serie „Die Zweiflers“
Um ihnen eine besondere Ehre zu erweisen, wurden Fotos ihrer Familie auch Teil der Serie „Die Zweiflers“, die von einer jüdischen Familie mit einem Delikatessen-Imperium in Frankfurt handelt. Darin spielt Reissa die Großmutter der Familie, die wie der Vater der Schauspielerin eine Auschwitz-Überlende ist.
Ihre Rolle der Lilka Zweifler brauchte also eine Häftlingsnummer, die den KZ-Gefangenen in der Regel auf den Arm tätowiert worden war. Eleanor Reissa schlug vor, die Nummer ihres Vaters für die Rolle zu nehmen. „Ich dachte, so hat die Nummer wenigstens einen Zweck. Ich trage sie sowieso in mir, also kann ich sie auch auf meiner Haut tragen“, sagt die Schauspielerin.
Mit den vier neuen Stolpersteinen in Stuttgart wurde den Schicksalen der Familie Schlüsselberg jetzt ein weiteres, bleibendes Andenken gesetzt – ein Mahnmal gegen das Vergessen.