„Jede Fläche, jeder Stein des ehrwürdigen Denkmals ist ein Blatt nicht allein der Geschichte des Landes, sondern auch derjenigen der Wissenschaft und Kunst.“. So beschreibt Victor Hugo 1831 die Pariser Kathedrale in seinem Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“.
Im französischen Original lautet der Titel schlicht „Notre-Dame de Paris“. Nicht der bucklige Glöckner Quasimodo, sondern die Kathedrale selbst und die Stadt um sie herum stehen eigentlich im Zentrum des Romans. Hugo schreibt eine Analyse der französischen Gesellschaft am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit, er beschreibt ihre Widersprüche und Ungerechtigkeiten.
Die Kathedrale wird zum Symbol des Widerstands der Vergangenheit und des Kampfes gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft.
Die Architektur ist das große Buch der Menschheit, der hauptsächliche Ausdruck des Menschen von verschiedenen Entwicklungsständen, entweder als Kraft oder als Intelligenz.
Ein Symbol für Frankreichs kollektives Gedächtnisses
Notre-Dame gilt als echtes Wahrzeichen der Stadt. Victor Hugo hebt Notre-Dame als universelles Symbol hervor, das die Entwicklung von Zivilisation, Wissen und kulturellem Ausdruck verkörpert. Die Kathedrale ist nicht nur ein sakrales Bauwerk, sondern auch ein Speicher des kollektiven Gedächtnisses und künstlerischen Schaffens.
Ähnlich äußerte sich auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, als er sich nach dem Großbrand 2019 in einer Videoansprache an die Nation wand. Die Kathedrale sei durch Kriege, Revolutionen und menschliche Fehler zerstört worden, so Macron, „aber jedes einziges Mal waren wir in der Lage, sie wieder aufzubauen“.
April 2019: Der Brand an Notre Dame
Die Reaktionen der französischen Bevölkerung verdeutlichten, wie viel Bedeutung noch heute in den Worten Victor Hugos steckt. Am 15. April 2019 brannte nicht irgendein Gebäude, sondern ein Teil der französischen Identität.
![Am Abend des 15. Aprils 2019 begannen die Flammen im Dachgebälk zu lodern und verursachten einen Brand, der erhebliche Schäden an der Kathedrale anrichtete. Der Wiederaufbau kostete 700 Millionen Euro. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance/AP Photo | Rafael Yaghobzadeh) Am Abend des 15. Aprils 2019 begannen die Flammen im Dachgebälk zu lodern und verursachten einen Brand, der erhebliche Schäden an der Kathedrale anrichtete. Der Wiederaufbau kostete 700 Millionen Euro.](/swrkultur/leben-und-gesellschaft/1733490347828%2Cnotre-dame-brand-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Neben internationalen Politiker*innen, die ihre Solidarität mit Frankreich zum Ausdruck brachten, brachten auch viele Prominent*innen, unter ihnen der französische Fußballstar Franck Ribéry , ihre Trauer in den sozialen Medien zum Ausdruck.
Der Großbrand verursachte erhebliche Schäden an der Kathedrale: Der Dachstuhl, der Spitzturm und ein Teil des oberen Gewölbes wurden zerstört. Ein Silberstreif am Horizont: Die Mauern im Kircheninneren, das Strebewerk und die berühmte Westfassade mit ihren beiden Glockentürmen blieben von den Flammen weitestgehend verschont.
![Fünf Jahre nach dem Brand in der Kathedrale Notre-Dame de Paris wird diese wiedereröffnet. Staatspräsident Macron durfte als erster Besucher die Kirche besichtigen. An der Rekonstruktion waren rund 2000 Experten beteiligt: Architekten, Restauratoren, Zimmerleute, Steinmetze, Dachdecker sowie Geophysiker und Statiker. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Christophe Petit Tesson) Fünf Jahre nach dem Brand in der Kathedrale Notre-Dame de Paris wird diese wiedereröffnet. Staatspräsident Macron durfte als erster Besucher die Kirche besichtigen. An der Rekonstruktion waren rund 2000 Experten beteiligt: Architekten, Restauratoren, Zimmerleute, Steinmetze, Dachdecker sowie Geophysiker und Statiker.](/swrkultur/leben-und-gesellschaft/1733490345554%2Cmacron-besucht-notre-dame-2024-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Am 8. Dezember 2024 wird Notre-Dame nun wiedereröffnet. Emmanuel Macron und seine Frau Brigitte hatten bereits eine Woche zuvor die Gelegenheit, die wiederaufgebaute Kathedrale zu besichtigen.
Die Verfilmungen von „Der Glöckner von Notre Dame“
Der Glöckner auf den Türmen von Notre-Dame hat viele Filmemacher*innen fasziniert. Hugos Roman diente als Vorlage für zahlreiche Verfilmungen, die erste bereits im Jahr 1905.
![Gina Lollobrigida spielt Esmeralda neben Anthony Quinn als Glöckner Quasimodo. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Everett Collection | ©Allied Artists/Courtesy Everett Collection) Gina Lollobrigida spielt Esmeralda neben Anthony Quinn als Glöckner Quasimodo.](/swrkultur/film-und-serie/1733493543559%2Cnotre-dame-film-1956-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Eine der bekanntesten Adaptionen stammt aus dem Jahr 1956. Unter der Regie von Jean Delannoy schlüpften Gina Lollobrigida und Anthony Quinn in der Rolle der Tänzerin Esmeralda und des Glöckners Quasimodo. Die Verfilmung bleibt dem Roman weitgehend treu. Am Drehbuch arbeiteten Jean Aurenche und der Dichter Jacques Prévert.
Etwas jugendfreundlicher und abseits der Vorlage wandelte der Disney-Film, der für viele Kinder der 1990er-Jahre der erste Berührungspunkt mit Hugos Werk gewesen sein dürfte: Die Disney-Verfilmung von 1996 zählt heute als Zeichentrick-Klassiker und wurde für seine Musik auch 1997 für einen Oscar nominiert.
Der Glöckner ist auch auf der Bühne erfolgreich
Doch schon bevor die Bilder laufen lernten, war die Geschichte von Quasimodo, Esmeralda und Frollo auch auf der Bühne beliebt. Es gibt mehrere Opernadaptionen des Glückner-Stoffes, die erste entstand bereits wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung: „La Esmeralda“ (1836), geschrieben von der Komponistin und Dichterin Louise Bertin. Das Libretto schrieb Victor Hugo selbst.
Heute in Frankreich (und darüber hinaus) ein moderner Klassiker: das Musical „Notre-Dame de Paris“. 1998 erwachten die Figuren der Kathedrale mit der Musik des bekannten italienischen Liedermachers und Sängers Riccardo Cocciante und Texten des Kanadiers Luc Plamondon zum Leben.
Ort der französischen Geschichte
Notre-Dame ist aber nicht nur ein religiöses Symbol oder Ort der Kultur, sondern auch ein bedeutender Schauplatz der französischen Geschichte. Im Dezember 1804 krönte sich Napoleon hier zum Kaiser und 1944 feierte Frankreich in der Kathedrale die Befreiung des Landes von der Nazi-Besatzung.
![Die Konstruktion der Kathedrale begann 1163, und die ersten Arbeiten wurden 1250 abgeschlossen. Auf dem Bild: Notre-Dame im Jahr 1950. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / akg-images / Jules Dortes | akg-images / Jules Dortes) Die Konstruktion der Kathedrale begann 1163, und die ersten Arbeiten wurden 1250 abgeschlossen. Auf dem Bild: Notre-Dame im Jahr 1950.](/swrkultur/leben-und-gesellschaft/1733490348361%2Cnotre-dame-historisches-bild-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Wieder Hoffnung
Wer in den letzten Jahren Paris besuchte, konnte die Geschichte der Kathedrale und den Fortschritt der Arbeiten direkt an der Baustelle verfolgen. Rund um Notre-Dame wurden zahlreiche Tafeln aufgestellt, die mit Bildern und Beschreibungen interessierte Besucher*innen auf dem Laufenden hielten. Das öffentliche Interesse war enorm.
![Im Sommer 2024 Notre-Dame war noch eine Baustelle. (Foto: Francesco Negri) Im Sommer 2024 Notre-Dame war noch eine Baustelle.](/swrkultur/leben-und-gesellschaft/1733490346103%2Cnotre-dame-arbeit-100~_v-16x9@2dS_-6be50a9c75559ca1aaf1d0b25bae287afdcd877a.jpg)
Die Rekonstruktion der Kathedrale war nicht nur eine Pariser Angelegenheit: Es ist der Wiederaufbau eines nationalen Kulturguts, das den Geist der Gemeinschaft widerspiegelt – etwas, woran man sich gerade angesichts der aktuellen Regierungskrise in Frankreich mehr denn je erinnern sollte.