Nicht erst seit seiner Rückkehr ist er in aller Munde: Wie kein anderes Tier hat der Wolf die europäische Kulturgeschichte geprägt – sei es als angsteinflößender Märchen-Charakter, als mütterliches Vorbild, furchtloser Rebell oder gottgleiche Eminenz.
Beim Thema Wolf kochen die Emotionen hoch
Kaum ein Tier polarisiert wie der Wolf. Von den einen bewundert und als Sinnbild für ein natürliches, wildes Leben verklärt, wird er von den anderen gefürchtet. Insbesondere Nutztierhalter sorgen sich um ihre Existenz, sollte sich der Wolf in Deutschland weiter ungestört ausbreiten.
Die Rückkehr des Wolfs in Deutschland 120 Jahre nach seiner vermeintlichen Ausrottung sorgt für anhaltende Diskussionen rund um Abschuss-Optionen, Wolfszäune, Herdenschutzhunde, Entschädigungszahlungen und Artenschutzrichtlinien. Die Emotionen kochen hoch, sowohl auf der Seite von Tierhaltern und Jägern als auch bei Umweltschützern.
Nachdem vereinzelt Wölfe auch große Tiere wie Rinder oder Pferde angegriffen haben, nimmt zwar die Angst in der Bevölkerung zu, andererseits zeigen Studien und Umfragen, dass die Mehrheit die Rückkehr des Wolfs positiv bewertet.
Eine forsa-Umfrage aus dem Jahr 2021, die vom NABU in Auftrag gegeben wurde, kommt außerdem zum Schluss, dass 65 Prozent der Befragten der Meinung sind, die von Wölfen ausgehenden Risiken würden in den Medien übertrieben dargestellt.
Alles also nur ein medial gemachtes Problem rund um den Wolf? Mitnichten! Dass der Wolf bereits seit der Antike polarisiert, zeigt ein Blick in die Kulturgeschichte.
- Vergöttert und verehrt: Der Wolf als Wesen höherer Natur
- Gefürchtet und besiegt: Der Wolf als Sinnbild für das Böse in der Welt
- Halb Tier, halb Mensch: Der Werwolf
- Faszinierend und natürlich: Der Wolf als wildes Wesen
- Vorbild und Vermenschlichung: Der Wolf als Helfer in der Not
Der Gottgleiche
Wölfe gelten als stark, angriffslustig, aber auch als äußerst soziale Wesen. Kein anderes wildes Tier kam dem Menschen so nahe wie der Wolf. Spätestens mit seiner Domestizierung vor ungefähr 10.000 bis 15.000 Jahren wird der Wolf beziehungsweise der Hund fester Bestandteil menschlicher Lebenswelten.
Damit verlässt das Tier ein Stück weit den Bereich der Natur und betritt die menschengemachte Kultur. So spielt er auch in Mythen und Legenden eine wichtige Rolle – besonders bei Völkern, die von der Jagd lebten, etwa in Nordamerika, wo der Wolf auch als Totem weit verbreitet war. Oder in der nordisch-germanischen Mythologie.
Nicht nur wird der germanische Haupt-, Kriegs- und Totengott Odin von den zwei Wölfen Geri und Freki begleitet, sondern auch von dem riesigen Fenriswolf bedroht.
„Die germanische Mythologie selber ist voll mit Wolfsfiguren. Originalquellen kennen wir aus der altgermanischen Mythologie relativ wenig. Was aber deutlich wird dabei ist, dass der Wolf ein Vorbild der Krieger ist“, sagt der Historiker Utz Anhalt gegenüber Deutschlandfunk Kultur.
Auch die Zwillingssöhne des Fenriswolfs spielen eine wichtige Rolle im nordisch-mythologischen Weltbild: Skalli und Hati jagen Sonne und Mond über das Firmament, am Tag des Weltuntergangs Ragnarök sollen die beiden mächtigen Tiere gar die Sonnengöttin Sol und den Mondgott Mani einholen und verschlingen.
Mischung aus Furcht und Ehrfurcht
Diese Vorstellungen haben auch eine Entsprechung in der realen Welt: So warfen sich beispielsweise die Berserker Wolfsfelle über, um Feinde zu beeindrucken. Angsteinflößend, aber auch mächtig und damit eindrücklich war der Wolf wohl schon immer. Kein Wunder also, dass er sich als Vorbild vor allem für Krieger eignete. Mit einer Mischung aus Furcht und Ehrfurcht blicken auch heute noch Menschen auf das Tier.
Sie zeigt sich bis heute in Männernamen germanischen Ursprungs: Rudolf bedeutet beispielsweise „ruhmreicher Wolf“ oder Wolfgang „der mit dem Wolf in den Kampf geht“.
Im antiken Ägypten wurde der wolfsgestaltige Upuaut, auch Wepwawet genannt oder griechisch Ophois, ebenfalls als Gott des Krieges und des Todes verehrt. Er schreitet dem Totengott Osiris voraus, Upuaut weist den Verstorbenen im Jenseits den Weg, so die Vorstellung. Auch Anubis, der altägyptische Gott der Totenriten und Mumifizierung wird als Wolf oder Schakal dargestellt.
Der Wolf ist also in der menschlichen Vorstellung ein Grenzgänger: Er bewegt sich zwischen Leben und Tod, ist weder der einen, noch der anderen Welt vollumfänglich zuzurechnen. Das Tier ist Ambivalenz pur.
Böser Wolf
War das Wolfsbild in Jäger- und Sammlergesellschaften eher positiv konnotiert, wandelten sich die Vorstellungen mit der Etablierung der Viehhaltung ins Negative.
Neuerungen in der Landwirtschaft erlaubten es, bisher ungenutzte Gebiete zu bewirtschaften. Wälder wurden gerodet, Sumpfgebiete zu Weideflächen umfunktioniert und Beutetiere in adligen Bannwäldern für die Jagd gehegt. So fanden die Raubtiere immer weniger Nahrung. Die Wölfe näherten sich den menschlichen Siedlungen.
Im Mittelalter erreichte die Angst vor dem Tier ihren Höhepunkt. Der Wolf galt als Inbegriff des Bösen. Organisierte Wolfsjagden fanden ab dem 15. Jahrhundert statt. Der Wolf wurde vom Jäger zum Gejagten, grauenhaft erscheinen heute die Methoden, mit denen die Tiere erlegt wurden.
Die Kirche als Katalysator der Wolfsangst
Auch die Kirche hatte daran ihren Anteil. Im Alten Testament ist erstmals ein moralisches Urteil über den Wolf zu lesen: Hesekiel beschreibt ihn als Sinnbild von Zerstörungswut und Habgier. Die Bergpredigt begründet sogar ein beliebtes Motiv christlicher Ideengeschichte: Jesus als Hirte schützt seine Schäfchen gegen den Wolf, der damit sinnbildlich für die dunkle, hinterlistige und unberechenbare Natur steht.
„Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie harmlose Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe“, soll Jesus gesagt haben (Mt 7,15).
Wölfe waren für die Hirten eine tatsächliche Bedrohung. Insbesondere Kinder, die Hüteaufgaben übertragen bekamen, waren stundenlang mit den Nutztieren in der Natur unterwegs, sammelten in den Wäldern Brennholz und waren somit für die Raubtiere leichte Beute. Jagdprivilegien hatte bis zum Ende der Feudalherrschaft 1848 hingegen nur der Adel.
Insbesondere während Kriegen, wenn Kranke, Alte und Kinder schutzlos in den Wäldern nach Essbarem und Brennholz suchten, sind Wolfsangriffe überliefert. Auch auf den Schlachtfeldern hielten sich die hungrigen Aasfresser auf. Sie gruben die Leichen aus – was den gläubigen Zeitgenossen wie Teufelswerk vorkommen musste.
Diese Furcht der Vergangenheit wirkt bis in die Gegenwart fort – auch wenn heute weder hungrige Wölfe noch Schafe hütende Kinder in unseren Wäldern zu finden sind.
Schauergeschichten verfestigen den Wolfshass
Die Angst vor dem Tier hatte maßgeblichen Einfluss auf Erzählungen. Nicht nur im Märchen wurde der Wolf zum Gegenentwurf für das Gute, das Liebe, das Sittsame und Erstrebenswerte.
Ein Beispiel für die um sich greifende Panik bietet die Geschichte der „Bestie des Gévaudan“: Im französischen Zentralmassiv wurden zwischen 1764 bis 1767 rund 100 Kinder und Frauen getötet. Im Film „Pakt der Wölfe“ werden die historischen Vorkommnisse aufgegriffen.
Mehrere Wölfe wurden damals erlegt, sogar ein Kopfgeld wurde zur Ergreifung der Bestie ausgelobt. Bis heute ist jedoch nicht abschließend geklärt, wer für die Tötungen verantwortlich war. Waren es Wölfe? Oder doch eine Hyäne oder ein Löwe, die möglicherweise aus Afrika ins Land gebracht wurden? Oder war es gar ein Mensch, der die bestialischen Morde verübt hat?
Der Werwolf: Halb Tier, halb Mensch
So symbolhaft überfrachtet, eignete sich der Wolf auch schon in der Vergangenheit hervorragend dazu, einen Sündenbock abzugeben. Die Kirche war hier maßgeblich an der Verbreitung des schlechten Rufs beteiligt.
Im berüchtigten Hexenhammer „Malleus maleficarum“ von 1486, ein Handbuch zur Inquisition, fand der Werwolf neben Hexen und Zauberern Erwähnung.
Wurden vermeintliche Werwölfe geschnappt, erhielten sie nicht selten einen Prozess inklusive eines Verteidigers, teilweise wurden Wölfe in menschlicher Kleidung gehenkt, Tiere mit Perücken und Masken versehen und der Öffentlichkeit präsentiert.
Doch oftmals waren es eben keine Wölfe, die für bestialische Taten zur Verantwortung gezogen wurden: Die Figur des Werwolfs ermöglichte es in der Vergangenheit auch, sich unliebsam gewordener Menschen zu entledigen. Wer sich etwas zuschulden hat kommen lassen, wurde behandelt wie ein Tier.
Die Angst vor dem realen Tier mischte sich besonders in Gebieten mit ausgeprägter Viehzucht mit der Furcht vor Werwölfen. Aus Deutschland sind rund 300 Fälle erwähnt, größtenteils wurden männliche Schäfer als Werwölfe angeklagt.
Werwolf bedeutet so viel wie Mann-Wolf. Er verwandelt sich nachts in ein unberechenbares, unkontrollierbares und blutrünstiges Wesen. Die Grenze zwischen Mensch und Natur ist beim Werwolf also nicht mehr klar voneinander zu trennen.
Heute ist der Werwolf längst zum festen Bestandteil der Popkultur geworden. Ob in Filmen wie „American Werewolf“, „Wolf – Das Tier im Manne“, in Jugendbuch-Reihen wie „Harry Potter“ oder „Twilight“ oder in Musikvideos (etwa Michael Jackson in „Thriller“): Heute wird der Werwolf eher ironisierend-humorvoll als wirklich angsteinflößend dargestellt.
Der Wilde
Dass eine Grenzüberschreitung nicht nur Angst auslösen kann, zeigt sich hingegen im positiven Klischee vom Wolf als Inbegriff der natürlichen Freiheit.
Die Begeisterung für das Unberührte und Wilde wird vor allem in der Romantik als Reaktion auf die zunehmende Industrialisierung zur vorherrschenden Idee. Bis heute ist sie präsent, der Wolf wird zum Sinnbild der Freiheit, der unbeugsamen Natur.
Dieses verklärend-romantische Motiv begegnet uns etwa in Jack Londons Romanen („Ruf der Wildnis“ und „Wolfsblut“), im Westernfilm („Der mit dem Wolf tanzt“), bei Hermann Hesse („Steppenwolf“) oder Nicolette Krebitz („Wild“).
Trailer zum Film „Wild“:
Das Tier wird zum Inbegriff der Zerissenheit, die entsteht, wenn die Zwänge der Zivilisation auf ein individuelles Freiheitsbedürfnis treffen, zum Rebell, der ungezwungen und furchtlos für Systemkritik in Dienst genommen wird.
Der Wolf ist damit selbst zu einem Symbol geworden. Tritt er auf die Bühne, ist sofort klar: Es geht um die Grenzen und Überschneidungen der (menschlichen) Natur und ihrer kulturellen Überformungen, um das Innere, das Wirkliche, Wahrhafte und Rohe in jedem von uns.
Der Helfer in der Not
Nicht nur das positive Wolfsbild vom Wilden, Natürlichen ist eins, das uns in Filmen, Serien, Büchern und Bildern entgegentritt.
Aus Rom ist etwa eine mütterlich-fürsorgliche Rolle des Tiers mythologisch überliefert: Hier soll eine wölfische Amme für das Überleben der beiden späteren Stadtgründer Romulus und Remus verantwortlich zeichnen – ähnlich wie im Dschungelbuch, in dem der Menschenjunge Mogli ebenfalls von den Wölfen Akela, Rama und Raksha großgezogen wird.
Darin spiegeln sich auch positive Erfahrungen, die der Mensch in seiner Geschichte mit dem Wolf gemacht hat. Nicht zuletzt ist es sein Artgenosse, der Hund, der als treuer Gefährte und „Freund des Menschen“ bis heute die wölfische Natur in unsere Wohnzimmer trägt.
Wölfe im Südwesten
Rückkehr eines Raubtieres Der Wolf in Baden-Württemberg: Drei Menschen und ihre Wildtiergeschichten
Rund 150 Jahre galt der Wolf in Deutschland als ausgerottet. Seit einigen Jahren erobert er seine alten Lebensräume wieder zurück - auch in Baden-Württemberg.
Neues Wolfspräventionsgebiet wird ausgewiesen Wolf kehrt in den Hunsrück zurück: Landwirte in Angst
1879 wurde im Hunsrück der letzte Wolf im Land erschossen. Rund 150 Jahre später ist er zurückgekehrt und hat eine Schafherde angegriffen. Können Bauern mit Unterstützung rechnen?