Mantel aus Schurwolle mit schwarz-weißem Fischgrätenmuster
Der Mantel meines 2015 verstorbenen Vaters bedeutet mir sehr viel. Er gehört zu den wenigen Gegenständen, die mich an ihn erinnern und die ich eines Tages an meine Kinder weitergeben kann. Da wäre noch die Armbanduhr, die er sich in Istanbul als junger Mann nach dem Militärdienst von seinem schmalen Gehalt als Arbeiter in einer Glasfabrik gekauft hat. Dass man seine Siebensachen nicht achtlos behandelt, sie aufhebt und pfleglich behandelt, hat er mir beigebracht.
Der Mantel aus Schurwolle mit schwarz-weißem Fischgrätenmuster wurde vor 57 Jahren in Bad Urach gekauft. Dorthin hatte es meinen Vater verschlagen, dort hat er meine Mutter kennengelernt und geheiratet. Sie hat ihm den Mantel für die Winter geschenkt. Mein Vater musste oft nachts raus, zur Frühschicht in die Spinnerei Gross, wo er zunächst arbeitete. Die Kälte war er nicht gewohnt.
Verneigung vor der ersten Generation der Gastarbeiter
Cem Özdemir hat sein Direktmandat, das er bei der Bundestagswahl gewonnen hat, der ersten Generation der Gastarbeiter gewidmet (SWR Aktuell 5.10.2021).
Die Mutter saß in der Änderungsschneiderei mit Schere in der Hand
Dann gibt es noch eine große Schere, sie stammt aus der Änderungsschneiderei meiner Mutter. Auch sie habe ich aufbewahrt. Meine Mutter starb Anfang August 2021 in ihrer Wohnung in Urach, nun liegt sie dort auf dem Friedhof im Grab neben meinem Vater. Die Schere gehörte zu ihrem Handwerkszeug. Wenn ich an meine Mutter denke, dann sitzt sie in ihrer Schneiderei, zwischen Stoffen und Kleidern, vor sich die Nähmaschine. Sie lächelt und hat die große Schere in der Hand.
So haben wir meine Mutter stets gesehen. Sie hatte die Schere in der Hand, wenn meine beiden Kinder und ich im Erdgeschoss in Bad Urach geklingelt haben und sie uns die Tür geöffnet hat. In ihrer Änderungsschneiderei hat sie mit Schere, Garn, Maßband und Nähmaschine alles passend gemacht. Zu weit, zu eng, zu kurz, zu lang – das gab es für sie nicht. Das galt auch in ihrem Leben: Löcher wurden gestopft, Verlorenes angenäht – und für Neues braucht man einfach das richtige Schnittmuster.
Es war sicher nicht Traum meiner Mutter, aus der großen Weltstadt Istanbul kommend, im kleinen Bad Urach zu landen. Aber sie hat ihn zu ihrem Traum gemacht. Mit dem Haus, auf das meine Eltern zeitlebens in schwäbischer Manier gespart haben, mit ihrer eigenen Änderungsschneiderei, in der meine Mutter bis zu ihrem Tod gearbeitet hat.
Der Sohn Özdemirs soll den Mantel seines Großvaters erben
Vor ein paar Tagen habe ich den Mantel doch übergezogen. Es war ein strahlend blauer Herbstabend, mein Sohn spielte im Berliner Wedding Fußball. Es wurde kalt, aber der Mantel wärmte mich so gut wie meinen Vater vor der Frühschicht. Die Mannschaft meines Sohnes hat 4:2 gewonnen, ein Freundschaftsspiel. Er spielt links, Mittelstürmer, und servierte ein paar gute Vorlagen. Der Mantel wird ihm eines Tages gut passen, habe ich gedacht.