August 1999: Anime-Fans erobern Koblenz
Für die Koblenzerinnen und Koblenzer war es ein ungewöhnlicher Anblick, der sich zwischen dem 6. und 8. August 1999 vor der Rhein-Mosel-Halle bot. Eine Schar von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in bunten Kostümen gingen ein und aus. Sie saßen auf dem Rasen, machten Fotos und unterhielten sich angeregt miteinander.
Heiß sei es gewesen, erinnert sich Andrea Mehnert, damals 15 Jahre alt. Eigentlich hatte sie, damals Schülerin in Koblenz, überhaupt nichts von der Animagic, der ersten Anime- und Manga-Convention in Deutschland, mitbekommen. Eine Freundin überraschte sie mit einem Ticket für das Wochenende. 50 DM kostete der Eintritt – für sie als Schülerin eine Menge Geld, erzählt Andrea.
„Es kam mir alles so groß vor“, erinnert sie sich. Alle Menschen, die sie an diesem Wochenende getroffen habe, seinen unheimlich freundlich gewesen, sie habe die ganzen Eindrücke wie ein Schwamm aufgesogen: „Ich war wie in einem positiven Rausch.“
„Sailor Moon“ und „Dragon Ball“ trafen den Nerv der Zeit
Was sich hinter Begriffen wie Anime, Manga oder Cosplay versteckte, wusste 1999 kaum jemand außerhalb der Fan-Gemeinde. Und diese war im raschen Wachstum: Zwei Jahre zuvor hatte RTL2 mit der Ausstrahlung der Anime-Serie „Sailor Moon“ einen Überraschungserfolg gelandet. Die Geschichte über eine Gruppe Schülerinnen, die sich mithilfe magischer Kräfte in Kriegerinnen verwandeln konnten, traf den Nerv seiner Zeit.
RTL2 baute das Anime-Angebot aus und holte japanische Erfolgsserien wie „Pokémon“, „Dragon Ball“ oder „One Piece“ ins Programm. Daneben veröffentlichten Verlage wie Egmont Ehapa und Carlsen zunehmend Manga in erschwinglichen Schwarz-Weiß-Sammelbänden.
Fan-Kultur Mehr Nerds braucht diese Welt! Der Siegeszug eines Sonderlings
Wer den Begriff „Nerd“ hört, der denkt unweigerlich an „The Big Bang Theory“: hochintelligente, verschrobene Mannkinder mit Hang zu Comics, Games und PCs. Doch Nerd-Kultur ist viel mehr, sagt unser Autor, selbst stolzer Nerd. Es ist eine Bewegung, die die Liebe zu guten Geschichten und deren kreativem Ausdruck feiert, so auch am 25. und 26. März auf der ersten „Proud Nerd Convention“ in Trier.
An vieles kam man Ende der 1990er Jahre auch einfach nicht ran, erinnert sich Kerstin Rust. Die damals 19-Jährige aus der Eifel war mit einem Kumpel zur Con gekommen, ihre Eltern hatten sie gefahren. Sie hatten sich mit Leuten, die sie aus einem Sailor-Moon-Chatroom kannten, in Koblenz verabredet.
Vor allem erinnert sich Kerstin heute noch an den Händlerraum. Das waren nur zwei Tischreihen – nicht vergleichbar mit der Fülle an Messeständen, die auf heutigen Conventions vertreten sind – aber für Fans damals eine unheimliche Fülle an Büchern, Figuren, Videokassetten und CDs zu den heißgeliebten Serien.
Cosplay schon damals fester Bestandteil der Anime-Fankultur
Damals wie heute gehörten Cosplayerinnen und Cosplayer fest zur Messe. Eine der ersten deutschen Cosplayerinnen war Anna Bayer. Die damals 20-Jährige war Mitglied der Gruppe „Tsuki no Senshi“ (Deutsch: „Die Kriegerinnen des Mondes“), einem Showtanz-Projekt aus München, das mit einem Bühnenprogramm zur Serie „Sailor Moon“ auf der Convention auftrat. Anna spielte die verschollene Prinzessin Kakyuu, eine Heldin aus einer anderen Galaxie.
Sie sei damals mit mehreren Kostümen auf die Animagic gereist, erinnert sich Anna, alles Charaktere aus ihrer damaligen Lieblingsserie „Sailor Moon“. Ein Schwert, das zu einem ihrer Kostüme gehörte, hat sie noch heute, wie auch viele andere Erinnerungsstücke aus den ersten Convention-Jahren.
Schon damals habe es vieles gegeben, was deutsche Conventions bis heute auszeichnet, insbesondere Amateur-Tanzformationen, Theatergruppen und Fan-Musikacts, die in der Szene eine feste Größe sind – und was deutsche Conventions auch von Comic-Messen in Frankreich, Spanien oder den USA unterscheidet. Die „Tsuki no Senshi“ gibt es nach wie vor, ebenso unzählige Cosplay-Wettbewerbe, die auf den Messen ausgetragen werden.
„Du warst einfach glücklich, in diesem Haufen Menschen zu sitzen.“
Etwas, an das alle drei gerne zurückdenken, ist die familiäre Atmosphäre, die auf den ersten Conventions in Deutschland geherrscht habe. „Du warst einfach glücklich, in diesem Haufen Menschen zu sitzen“, erinnert sich Andrea.
Für sie sei es das erste Mal gewesen, dass sie in einer derartig großen Gruppe Gleichgesinnter gesessen habe. In einer Zeit, in der man nicht ständig über das Internet mit anderen Menschen in aller Welt in Kontakt bleiben konnte, waren Conventions die einzige Möglichkeit zum Austausch. Drei Brieffreundschaften habe sie allein an diesem ersten Treffen geschlossen.
„Du hast Kontakt zu Leuten bekommen“, erzählt auch Anna. Man sei sehr leicht miteinander ins Gespräch gekommen, vor allem, wenn das Gegenüber ein Kostüm aus der eigenen Lieblingsserie trug – ein gemeinsames Thema war damit schnell gefunden. Man habe sich einfach miteinander gefreut – „egal, wie zusammengesucht die Kostüme waren“, so Kerstin.
Die familiäre Atmosphäre von damals gibt es nicht mehr
Heute sind Manga-Conventions keine Seltenheit mehr. Die Animagic, die seit 2017 im Mannheimer Rosengarten stattfindet, kann regelmäßig mit bis zu 30.000 Besucher*innen rechnen. Allein im Südwesten gibt es alljährlich mehrere große und kleine Manga-Messen, etwa in Stuttgart, Ludwigshafen, Mainz, Wiesbaden oder – seit diesem Jahr wieder – in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle.
Die familiäre Offenheit von früher hätten die Conventions heute nicht mehr – hierbei sind sich alle drei einig. Anna, die auch nach 25 Jahren immer noch gerne auf Conventions geht, zieht kleinere Fantreffen den Großveranstaltungen vor.
„Je größer es wird, desto unpersönlicher wird es“, resümiert auch Andrea. Dennoch: Der Funken der Community umgebe die Conventions noch immer. Es gebe zwar den kommerzielleren Aspekt der Produkt-Launches und Werbe-Panels, aber den begeisterten Fan-Austausch, den finde man auch noch nach wie vor.
Für alle drei war es etwas Besonderes, in der Convention-Szene erwachsen zu werden. 90 Prozent ihres heutigen Freundeskreises habe sie in ihrer Convention-Zeit kennengelernt, sagt Kerstin. Auch Anna hat dort viele ihrer heutigen Freunde gefunden, Andrea sogar ihren Ehemann. Ihre Zeit als Pionierinnen der Anime-Conventions wollen sie alle drei heute nicht missen.