von Frank Hertweck
Meine Ausgabe „Auf den Marmorklippen“ stammt aus dem Jahr 1949. Sie ist erschienen im Otto Reichl Verlag, in dem Ernst Jünger nur für kurze Zeit veröffentlicht hat. Mit Bleistift steht auf dem Vorderblatt „Klaus Figge, Nov. 1953“, ein ehemaliger Kollege, aus dessen Beständen ich diese Ausgabe geschenkt bekommen habe. Es ist die erste Ausgabe nach dem Krieg, während der NS-Zeit hatte Jünger in der Hanseatischen Verlagsanstalt veröffentlicht, wo auch die 3. Auflage von Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ erschien. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus erlosch ihre Geschäftserlaubnis in der britischen Besatzungszone. Bei Jünger sind die Erscheinungsjahre nie ganz unwichtig, weil er selbst seine Werke immer wieder überarbeitet hat. Bevor der Roman beginnt, heißt es:
„Begonnen Ende Februar 1938 in Überlingen am Bodensee. Beendet am 28. Juli 1939 in Kirchhorst bei Hannover. Durchgesehen im September 1939 beim Heer. Erneut durchgesehen im Mai 1949 in Ravensburg“.
Dann hebt er an mit den berühmten Zeilen:
„Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glücks ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen.“
Leser haben diese Zeilen auf den Beginn von Dantes „Göttlicher Komödie“ bezogen, darauf, dass da ein Erzähler sich an die Mitte seines Lebens erinnert, an eine Zeit der Krise, der Verwirrung. Man hat bei der Lektüre der „Marmor-Klippen“ das Gefühl, die liegt schon lange zurück, aber eigentlich verraten die vorangestellten Zeitangaben, dass es für solche Veränderungen im Leben Jüngers nur wenige Monate brauchte. Im Februar 1938 herrschte nämlich zumindest für einen guten Deutschen wie ihn noch Friede, im September 1939 hatte die deutsche Wehrmacht dann gerade Polen überfallen. Jetzt herrschte Krieg. Man wird davon ausgehen können, dass Jünger sich dieser Zeitenwende bewusst war. Damit ist auch klar, dass der Dante-Bezug unter umgekehrten Vorzeichen stattfindet. Denn bei Jünger erinnert sich der Erzähler an Zeiten des Glücks, die im Unglück enden. Also Paradies, Inferno, statt Inferno, Purgatorium, Paradies. Und mit Sicherheit betonen die präzisen Angaben der Entstehung, was für Jünger immer schon von größter Wichtigkeit war, die prognostischen Fähigkeiten von Literatur herauszustellen, die den Umbruch zu ahnen scheint, bevor er dann mit dem Krieg eintritt.
Und ein weiterer Punkt ist von Anfang an gegeben, der Erzähler wird überleben, um erzählen zu können, um die Ereignisse in Literatur zu verwandeln, um sie aus den Kämpfen der Tagespolitik herauszuheben und sie den Gesetzen der Ästhetik zu unterwerfen. Von der ersten Seite des Romans an laufen zwei Zeitstränge gegeneinander, ein retardierender, reflexiver und ein nach vorne drängender-dynamischer, sprich: der einfache, klare Plot. Das geht bis in die Sprache hinein. Schon 1941 bemerket ein Schweizer Kritiker, dass das Konjunktionaladverb „so“ den Text dominiere. Jünger tut das zwar im Tagebuch ab, weil er natürlich weiß, dass das „so“ das Scharnier ist vom stofflichen Erzählen zu Höherem“, vom Zeitgebundenen zum Zeitenthobenen, reagiert aber trotzdem und reduziert die „Sos“ für die 1949er-Ausgabe von 128 auf 53.
Nun ist das gleichsam Höherlegen von Erzähltem ins Abstrakte-Zeitlose-Allegorische oft eine routinierte Masche der Jüngerschen Texte, aber in den „Marmorklippen“ wird diese doppelte Perspektive legitimiert durch die Rückschau des Erzählers, so dass der narrative Rahmen der Geschichte erhalten bleibt und nicht durch oberschlaue Bemerkungen des Autors - auch so eine Angewohnheit Jüngers - implodiert. Geschichte und Kommentar sind hier mit einer Ausnahme aus einem Guß. Damit wird zugleich die Gefahr gebannt, dass die „So“-Sätze zu Sentenzen werden, gleichsam in Stein gemeißelt Aphorismen, obwohl Jünger immer gefährdet ist, das beschworene Geheimnis hinter den Dingen eher geschwätzig auszusprechen als Ambivalenzen auszuhalten. Beispiel?
„Von den Kadavern, die auf der Heide faulten, waren Seuchen aufgestiegen und hatten das große Sterben in die Herde eingeführt. So bringt der Untergang der Ordnung niemandem Heil.“ (76)
Oder:
„Oft dringt in den erschöpften Körper das Verderben durch Wunden, die der Gesunde kaum merkt“,
der natürlich gar nicht gesund ist, wenn er Wunden hat. Man weiß, was Jünger meint, aber es ist undeutlich ausgedrückt. So ist es ja oft bei Jünger, in stärkeren Momenten sind die Unschärfen produktiv, in schwächeren neigen sie zur Trivialität.
Die Marmorklippen entfalten einen Raum, der zwischen Traum und Realien changiert. Er ist gleichsam geopolitisch grundiert, im Süden liegt Alta Plana, ein Gebirge, das ins Burgundische hinüberreicht, es stößt an ein Binnenmeer, die Marina, an deren Nordhängen die Mamorklippen liegen, auf denen der Erzähler zuhause ist. Jenseits davon beginnt Campagna, mit ihren Weideflächen, die an die Waldgebiete des Fillerhorns stoßen. Unschwer hat man hier die Bodenseelandschaft erkannt, wo Jünger zu Beginn des Schreibens lebte, aber wichtiger als die autobiographische Auslegung ist die Funktion, die die Landschaften im Roman einnehmen. Denn Jünger verbindet sie mit entsprechenden Wirtschaftsweisen. Da sind zum einen die Bergvölker Alta Planas, am See wiederum wird Handel getrieben und Wein angebaut, typischerweise friedlich, so dass man sich für militärische Aufgaben ein Söldnerheer leistet, dann die halbnomadischen Hirten und am weitesten nördlich die Waldbewohner des Fillerhorns mit Jägern, die in Meuten auf Beutezug gehen. Sie stammen ab von den Außenseitern der Weltgeschichte, den Verstoßenen, den Outlaws, den Ketzern. Ihr Anführer ist der Oberförster, der furchteinflößende Gegenspieler in der Erzählung, der seine Macht imperial nach Süden hin ausdehnen will. Aber das ist nur möglich, weil sich in der Marina eine Orientierungslosigkeit breitgemacht hat, eine neue Unsicherheit, eine Krise von Sitte und Wert. Nur so sickern in die brüchig gewordene gesellschaftliche Ordnung die Kräfte der Feinde ein. Zeitlich ist Jüngers Erzählung nicht definiert, es gibt Degen, Schwerter, Doppeläxte als Waffen, aber auch große Automobile. Der Beginn des Niedergangs wird auf eine Niederlage im Kampf mit Alta Plana datiert, ein Krieg, der schon ohne Hegung und Gesetz geführt wurde. Dies erinnert deutlich an den ersten Weltkrieg, und dass ein Ernst Jünger die Weimarer Republik als Niedergangsphänomen gedeutet hat, wird niemand wundern. Es kommt zu bürgerkriegsähnlichen Scharmützeln, begleitet vom Gesang parteischer Literaten, die Jünger von den eigentlichen Dichtern abgrenzt. (44) Aber sein Spott trifft auch die Kostümfeste des George-Kreises und der Münchner Literatenszene.
Seltsam grenzübergreifend agieren Angehörige des Mauretanierordens, es sind die mit einem ausgeprägten Willen zur Macht. Von machtlos über mächtig bis hin zu tyrannisch, Jünger liefert mit seinen Protagonisten gleichsam eine Typisierung des Umgangs mit Herrschaft.
Da ist der Erzähler, der sich nach den Erfahrungen der früheren Schlachten mit seinem Bruder zurückgezogen hat, um sich der Kartographie der Natur zu widmen, der Oberförster, für den die Gewalt kein Mittel, sondern eine Lebensform ist und der alles Friedliche hasst, Bauern, Winzer, Hirten gleichermaßen. (49), dann der Techniker der Macht, der Nihilist, der Zyniker, Rassist, Nietzscheaner, ebenfalls aus dem Orden der Mauretanier. Jünger nennt ihn Ethiker, obwohl ihm gerade die Werte, die der Erzähler hochhält wie das „hohe Leben, die Freiheit, die Menschenwürde“ nur für „eitlen Firlefanz gelten“. (Kiesel, 79)
Diese Optionen stehen sich gegenüber. Und dann gibt es noch einen müden Adligen, der seltsam ohnmächtig doch die entscheidende Funktion hat, am Ende – um seinen Kopf gebracht - eine neue Religion zu kreieren, nämlich durch Tradition. Man würde sich nicht wundern, wenn Ernst Jünger mit diesem Figurenensemble auch seinem damaligen Freund und Briefpartner Carl Schmitt ein Denkmal gesetzt hätte, der in seiner berühmten Abhandlung „Begriff des Politischen“ ja nichts anderes diskutiert als ein Freund-Feindverhältnis, das schwankt zwischen der Anerkennung des Gegenübers als Gegner oder aber seiner Vernichtung als absoluter Feind. Ganz im Sinne Schmitts unterscheidet Jünger daher zwischen den tapferen Kriegern, die über alle Feindschaften hinweg letztlich Brüder sind und einem Schinder mit seinen Schinderknechten, der auf Zerstörung aus ist. (101) Jünger selbst scheint dieser Zusammenhang klar. In einem Brief, in dem er Schmitt sein neues Werk „Auf den Marmor-Klippen“ vermeldet, lobt er in einem Atemzug die Ausführungen Schmitts zum totalen Krieg. (Briefe, 88)
Diese Entfesselung von Gewalt kulminiert in einem der berühmtesten Kapitel des Buchs: Der Erzähler macht sich auf die Suche nach einer Blume und landet an einem Ort des infernalischsten Schreckens, der Schinderhütte von Köppelsbleek, einer Lichtung am Rande von Fillerhorn, ein Lager der sadistischen Gewalt, in dem Menschen gequält und getötet werden, ein „Reich des Totes“, eine „Stankhöhle.“ Auf diesem Inferno erheben sich „die Schlösser der Tyrannis“. Auf seltsame Art relativiert Jünger dann dieses Horrorszenario als ein Trugbild, das es als solches zu erkennen gilt. Es sei ein Produkt unserer eigenen Ängste. Oder anders, als sei es ein Produkt der Fiktion, Literatur, nicht der Wirklichkeit. Und ganz typisch Jünger verbinden sich am Ende ein „Hauch von Verwesung“ und ein „Wollusttraum“. Keine Gewalt ohne sexuelle Konnotation.
Der Erzähler, der sehr wohl zu einer moralischen Einordnung dieses Geschehens fähig ist, zieht sich jedoch zurück ins Reich der Wissenschaft, um das gesuchte Pflänzlein zu kartographieren.
Unmittelbar danach kommt es zu einem legendären Treffen, zu einer, wie der Erzähler es nennt, neuen Prüfung, denn er bekommt Besuch von Braquemart, dem schon beschriebenen Machtzyniker, und von Sunmyra, dem jungen, aber erschöpften Fürsten. Sie planen ein Attentat auf den Oberförster und erhoffen sich vom Erzähler nützliche Informationen zu bekommen. Mit keinem Wort wird um die Unterstützung des Erzählers gebeten, aber man diskutiert und debattiert, vor allem Braquemart und der Erzähler, der im Attentatsplan nur die Keimzelle eines künftigen Bürgerkriegs erkennt, aber noch keine Lösung. Was er dagegen setzt, nennt er eine neue Theologie, eine neue Ordnung, die es bräuchte, um den Infiltrationen des Oberförster Resilienz entgegensetzen zu können. Theologie? Und warum nicht näherliegend Religion? Weil er auch hier seinen Kompagnon Carl Schmitt zitiert, der in seiner zweiten Programmschrift „Politische Theologie“ die entscheidende Frage nach der Legitimität eines Systems stellt, weil das Politische allenfalls einen Sieger, aber keine eigene Ordnung hervorbringt. Genau hier sieht der Erzähler seine Aufgabe „als Sammler an einem neuen Schatz von Legitimität.“ (Kiesel, 78) Aber solche Ideen interessieren den Zyniker der Macht nicht, für ihn zählt nur der Kampf.
Der Erzähler bleibt zurück um, wie eine berühmte Formel erläutert, „allein durch reine Geistesmacht zu widerstehen.“ (66) Ein wenig erstaunlich, weil er ja gerade bei der Schinderhütte gesehen hat, wozu der Oberförster fähig ist. Am nächsten Tag erfährt er, dass der Fürst und der Krieger alleine zum Attentat aufgebrochen sind, gegen seine ursprüngliche Intention rüstet er sich, um zusammen mit dem Anführer des Hirtenvolks gegen das Heer des Oberförsters zu bestehen. Was dann folgt, ist wilde Splatterliteratur, eine sich selbst überbietende rhetorische Gewaltspirale, die im Kino eines Quentin Tarantinos würdig wäre. Die Schlachtenorgie macht vor den Tieren nicht halt, in einem surrealen Alptraum kämpfen die Hundeheere der Kombattanten gegeneinander. Ähnlich wie schon bei der Schilderung der Schinderhütte ist es die rhetorische Übertreibung, die das kriegerische Geschehen als schauerromantisches Sprachspiel à la Edgar Allen Poe entlarvt. Der Erzähler setzt sich ab, um den Leithund des Oberförsters mit der Flinte zu erlegen. Und entdeckt die aufgespießten Schädel Braquemarts und des Fürsten. Der folgende Absatz ist es wert, vollständig zitiert zu werden.
„Nur so viel sei verraten, dass mein Auge unter all den alten und längst entfleischten Köpfen auch zwei neue, an Stangen hoch aufgesteckte erkennen musste – die Köpfe des Fürsten und Braquemarts. Sie blickten von ihren Eisenspitzen, von denen sich Haken krümmten, auf die Feuersgluten, die weiß verblätterten. Dem jungen Fürsten war nun das Haar gebleicht, doch fand ich seine Züge noch edler und von jener höchsten, sublimen Schönheit, die nur das Leid erzeugt. Ich fühlte bei diesem Anblick die Tränen mir in die Augen schießen – doch jene Tränen, in welchen mit der Trauer uns herrlich die Begeisterung ergreift. (…)
Und:
„Er hatte den Drachen Furcht in seiner Brust erlegt. Hier wurde mir gewiss, woran ich oft gezweifelt hatte: es gab noch Edle unter uns, in deren Herzen die Kenntnis der großen Ordnung lebte und sich bestätigte. Und wie das hohe Beispiel uns zur Gefolgschaft führt, so schwur ich vor diesem Haupt mir zu, in aller Zukunft lieber mit den Freien einsam zu fallen, als mit den Knechten im Triumph zu gehen.“
Selten ist ein Satz wie „Nur so viel sei verraten“ entschiedener widerlegt worden, weil Jünger nun wirklich alles sagt und ausspricht. Aber einmal mehr geht es nicht um Moral, sondern um eine Selbsterfindung. Der Erzähler wird keine der Alternativen wählen, die er hier so dezidiert herausstellt: Feigheit oder Tod. Das ist so eine der Jünger-Floskeln, die der Text selbst gar nicht rechtfertigt, die ideologisch aufgepfropft wirken. Und auch Ernst Jünger wählt ja im wirklichen Leben nicht zwischen Anpassung und Selbstopfer. Tertium datur, es gibt ein Drittes. Das haben seine Leser natürlich sofort gemerkt, auch für sie bietet der Text einen Ausweg. Wir kommen darauf zurück.
Der Erzähler ergreift den Fürstenkopf und entscheidet sich für die Variante, die er im Gespräch mit den beiden Attentätern herausgearbeitet hatte, die Begründung einer neuen Religion auf der Basis von Kirche und Adel. Der Kopf ist dabei das neue Kreuz. Erst dann ist der Reigen geschlossenen.
Die „Marmorklippen“ sind ein Entwicklungsroman mit Prüfungen wie in einem Abenteuerbuch. Der Held hat eine kriegerische Vergangenheit, will sich von ihr lösen, zieht sich zurück, muss dann doch noch mal ran, und findet am Ende einen neuen Sinn. Wir haben es mit einem Erzähler zu tun, der sehr wohl moralische Urteile kennt, aber am Ende erfindet er sich eben – als Erzähler, als Ästhet! Weder als Krieger noch als Wissenschaftler. Das ist entscheidend. Das Leben ist schön, heißt es einmal lapidar. Auch die Vernichtung, auch der Untergang. Am Ende heißt die letzte Aufgabe, davon zu berichten. Denn das Schreckliche ist nichts als des Schönen Anfang. Gestützt wird dieser Gedanke von einer Geschichtsphilosophie, die den Text beherrscht: aus Schöpfung folgt Zerstörung folgt Schöpfung folgt Zerstörung usw. In diesem Zyklus kommt die Welt zu sich. Das sieht und erkennt der Beobachter. Darin liegt kein Erlösungsgedanke, kein christlicher Impuls, wenngleich christliche Motive immer eine Rolle spielen und für die Frage nach einer neuen Legitimität immer von großer Bedeutung sind. Dass dabei der Schädel als Reliquie eines neuen Glaubens eher dem Katholischen nahesteht, was bei dem Protestanten Jünger überraschen mag, sei nur nebenbei erwähnt.
Viele haben die „Marmorklippen“ als Schlüsselroman gelesen, als Kritik am NS-Regime, als Widerstandsbuch. Ernst Jünger selbst hat die Kategorie des Schlüsselromans weit von sich gewiesen, sich aber doch bei einigen Punkten empfänglich gezeigt, sie in der Realität zu verorten, aber mit einem speziellen Dreh! Jünger hat seine „Marmor-Klippen“ nicht als Schlüsselroman seiner Gegenwart verstanden, sondern als einen der Zukunft. Kurz: er fühlte sich dann doch geschmeichelt, wenn man ihm prognostische Fähigkeiten zusprach. Denn genau so hat er Literatur verstanden.
Aber natürlich steckt doch einiges an Zeitgenossenschaft im Buch. So verweisen die beschrieben Konflikte zwischen Oberförster und Braquemart in die Zeit der Konsolidierung der Macht im Nationalsozialismus, in die Auseinandersetzungen zwischen SS und SA, zwischen den Gewalttechnokraten Himmler und Heydrich und dem Gewaltfanatiker Röhm, dem Anführer der SA, der in der sogenannten Nacht der langen Messer den Machtkampf und sein Leben verlor. Nicht umsonst heißt es einmal im Text: „Es drehte sich dabei im Grunde um einen der inneren Konflikte unter Mauretaniern, den hier in seinen Einzelheiten zu beschreiben nicht tunlich ist.“ (93)
Jünger selbst legte noch eine andere Spur. Schon bei der Abfassung verweist er im Tagebuch auf die „autochthonen Kräfte“, die dem Oberförster gegeben sind und die er in Russland verortet. In der Erzählung versteckt er dazu einen kleinen Hinweis, nämlich die „asiatischen Partien“ des Oberförsters. Aber letztlich ist ihm nicht daran gelegen, die Frage eindeutig zu beantworten. Im Mai 1945, als ihm bei Enthüllungen schon keine Gefahr mehr drohte, beließ er es bei der offenen Lektüre in bewusster Abgrenzung zu den Lesern die konkreten und eindeutigen Zuordnungen wünschten und mal Hitler, mal Göring, mal Stalin für den Oberförster ins Spiel brachten. Ironischerweise ließ er sich beim Machtnihilisten Braquemart zu Konkretisierungen hinreißen und verband ihn mit Goebbels und Heydrich, was einmal mehr zeigt, dass man die „Marmor-Klippen“ auch außenpolitisch lesen kann als Konflikt zweier totalitärer Systeme, des nationalsozialistischen Deutschlands und der kommunistischen UdSSSR, mit allen Grenzen der historischen Situation um 1938/1939.
Aber natürlich wurden die „Marmorklippen“ bei ihrem Erscheinen vornehmlich innenpolitisch gelesen - als Schlüsselroman. Jüngers Bruder Friedrich Georg prophezeite, die Erzählung würde entweder in den ersten 14 Tagen verboten werden oder nie. Faktisch passierte letzteres. Der Titel musste dabei der Parteiamtlichen Prüfungskommission unter Reichsleiter Bouhler nicht vorgelegt werden, weil die nur den Massenbuchmarkt überprüfte bzw. nur politische Bücher. Die Zensurstelle forderte das Buch trotzdem an, aber nach einigen Gesprächen gelang es dem Verleger der HAVA Benno Ziegler die entscheidenden Instanzen von der Unbedenklichkeit des Textes zu überzeugen. So konnte das Buch ungehindert erscheinen. Bis Ende 1940 wurden 22.000 Exemplare verkauft. Und trotz reduzierter kriegsbedingter Papierzuteilung, gelang es dem Verlag noch Anfang 1942 über die Zentrale der Frontbuchhandlungen 22.000 Exemplare drucken zu lassen, so dass am Ende rund 67.000 Exemplare auf dem Markt waren, ein Erfolg, der Jünger als Autor der wenigen Eingeweihten nicht recht passte, weil vor allem die Einordnung als Schlüsselromans ihm gegen den Strich ging. Aber während sein Verleger taktisch argumentierte, dass die ehrenwerten Personen des NS-Regimes sich doch unmöglich im rohen und kruden Figurenensemble der Erzählung wiedererkennen könnten, argumentiert Jünger gerade andersherum, seine Figuren seien so prachtvoll, da müsse doch jeder eigentlich stolz darauf sein, „geschlüsselt“ zu werden, aber solche Kerle gäbe es heute ja gar nicht mehr. Kurz: Sein Roman sei darum kein Schlüsselroman. Seine Leser haben sich nicht darangehalten und weiter entschlüsselt.
Obwohl Jünger immer wieder betont hatte, sein Buch sei keines des Widerstands, so war ihm doch wichtig, dass es nicht ganz problemlos die Zensur Bouhlers passieren konnte. Darum kolportiert Jünger über die Jahrzehnte an verschiedenen Stellen, dass er aus innersten Kreisen des Regimes gehört habe, erst auf Intervention Hitlers seien Versuche gestoppt worden, den Autor der „Marmorklippen“ zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei hat Jünger auch nach 1945 diese Gerüchte nie wirklich konkretisiert, was ja dann ein Leichtes gewesen wäre und jedem dieser Whistleblower zur Rehabilitierung gedient hätte. Erst 1985 tauchte überraschend ein Brief des Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler aus dem Jahr 1944 auf, der erklärte, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Jünger auf Anordnung von Hitler niedergeschlagen worden sei. Ein zu perfekter Brief, den das Bundesarchiv schnell als Fälschung entlarvte, was wiederum Ernst Jünger bezweifelte und sehr ärgerte.
Nur an einer Stelle lieferte Jünger dann doch einen Schlüssel. 1972 fügt er den „Marmorklippen“ sogenannte Adnoten bei, in denen er offenlegte, dass das Treffen zwischen dem Fürsten Sunmyra, Braquemart und den Brüdern auf eine wahre Begebenheit zurückgehe, nämlich auf einen Besuch eines späteren Hitler-Attentäters, der dann hingerichtet wurde. Ohne dass - typisch Jünger – sein Name genannt würde, konnte man auf Adam von Trott zu Solz schließen. Später wurde diesem Hinweis eine Fußnote mit Klartext beigefügt, der einen Irrtum eingestand, denn es sei gar nicht Adam, sondern der jüngere Bruder gewesen, Heinrich von Trott zu Solz. Der hatte Jünger mehrfach auf den Fehler hingewiesen, bis die klärende Korrektur endlich den Weg ins Werk fand. Aber noch in einem Film zum 100. Geburtstag sprach Jünger wieder von Adam als Besucher. Und mehr noch. Es ging 1938 gar nicht um irgendwelche Attentatspläne, so Heinrich von Trott zu Solz, sondern darum, ob Ernst Jünger an einer regimekritischen Zeitschrift mitarbeiten wolle, was er ablehnte.
Warum war Jünger dieser historische Bezug so wichtig? Und warum seine falsche Erinnerung an das Treffen? Weil es einer Poetologie entspricht, in Dichter Propheten zu sehen. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 konstruierte er den Anspruch, er habe diesen Versuch, Hitler zu töten, vorausgeahnt. Hier wollte er mehr beteiligt sein, als er es historisch war, bewusst nicht als Unterstützer der Attentäter, sondern als Dichter. 1956 schreibt er an Margarete von Boveri: „Sie haben recht, wenn Sie Trott als große Ausnahme ansehen. Ich muß nach einem nächtlichen Besuch, den Trott bei mir machte, eine Art Vision gehabt haben, den ich webte diesen Besuch in den Text der Marmor-Klippen rein, indem ich Trott mit der Gestalt des Fürsten Sunmyra verschmolz.“ Jünger scheint zu spüren, dass irgendetwas an seiner Geschichte nicht stimmt, sonst hätte er nicht auf die Vision als Bindeglied verweisen müssen bzw. in den Adnoten von 1972 darauf, dass er sich an das Gespräch nicht mehr erinnern könne. Aber von 1940er Jahren an wird er seine „Mamor-Klippen“ gleichsam als Blaupause seiner historischen Diagnosen benutzen, als hätte er in seinem Buch die Schrecken des NS-Regimes vorhergesagt. Er, der sich immer wieder gewehrt hat, die Figur des Oberförsters eindeutig in der NS-Gegenwart zu verorten, tut jetzt in seinen Tagebüchern genau das. Da tauchen die Lemuren auf, die Mauretanier, die Schinderhütte. Dass er damit den Holocaust, die industrielle Tötung von Millionen Juden, in das Portfolio einer Schauergeschichte einschreibt, kommt ihm nicht in den Sinn. Die „Mamor-Klippen“ sind dann doch zu klein geraten als Folie der Schrecken des Nationalsozialismus.
Und selbst das Attentat des 20. Juli liest er vor dem Hintergrund seiner Erzählung, denn wie er im Tagebuch notiert, wird durch Attentate „wenig geändert und vor allem nichts gebessert.“ Und: es kann nur „wirken, indem es scheitert.“ Auch das habe er in der Gestalt des Fürsten Sunmyra schon literarisch vorhergesagt. Dass der 20. Juli eigentlich mehr sein wollte als ein Attentat, nämlich ein Staatsstreich, für den es dummerweise Stauffenberg 2 x gebraucht hätte, das war sein historisches Problem. Es ging um mehr als eine symbolische Tat, aber genau die steht im Zentrum von Jüngers Denken.
Als das Buch 1939 erschien, erfüllte es seltsamerweise zwei gegenläufige Funktionen zugleich, es war ein deutliches Plädoyer für den Verzicht auf Attentate, ein Plädoyer für das, was man „innere Emigration“ genannt hat. Damit konnte ein Regime zufrieden sein, dem von einem der bekanntesten Intellektuellen die Delegitimierung von offenem Widerstand geliefert wurde, aber ironischerweise auch all diejenigen, die den Mut zur Opposition nicht fanden, was man keinem verdenken kann, doch irgendwie nicht mitgemacht haben wollten. Das heißt dann: „allein durch reine Geistesmacht zu widerstehen.“ (66) Ob das einer gemerkt hat? Wobei nicht vergessen werden darf, dass der Erzähler am Ende aus dem Exil den apokalyptischen Untergang der Marina beschreibt und zu verstehen versucht. Da hat er mehr mit Thomas Mann gemein, der „Auf den Marmor-Klippen“ das „Renommierbuch der zwölf Jahre“ genannt hat.