Ihr Vater ist ein bekannter linker Anwalt, ihre Mutter Apothekerin. Zuhause in Istanbul gehen Intellektuelle und Menschenrechtsaktivist:innen ein und aus. Im Alter von neun Jahren erlebt Pinar Selek, wie ihr Vater nach dem Militärputsch 1980 verhaftet wird und ins Gefängnis muss. Sie stellt Fragen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Glück für alle und sucht die Antworten auf der Straße - bei den Straßenkindern, Prostituierten, Transvestiten. Während ihres Soziologiestudiums baut sie mit ihnen die "Werkstatt der Straßenkünstler" auf.
Ein erfundenes Urteil
Im Juli 1998 wird sie festgenommen. Sie ist 26 Jahre alt und recherchiert gerade für eine Studie über die Bedeutung von Gewalt für Kämpfer:innen der kurdischen Untergrundorganisation PKK. Sie soll die Namen ihrer Interviewpartner:innen nennen. Sie weigert sich - auch unter Folter. Im Gefängnis erfährt sie von der Anschuldigung, im Auftrag der PKK auf dem Ägyptischen Bazar eine Bombe gelegt zu haben. Bei dieser Explosion am 9. Juli 1998 starben sieben Menschen, 127 wurden verletzt.
Der einzige Belastungszeuge widerruft bald danach seine unter Folter erpresste Aussage. Mehrere Gutachter stellen fest, dass eine defekte Gasleitung die Ursache der Explosion gewesen sei. Nach zweieinhalb Jahren kommt Pinar Selek aus dem Gefängnis frei. 2006 wird sie auch vor Gericht freigesprochen, doch der Oberste Gerichtshof kassiert das Urteil.
Es folgen drei weitere Freisprüche und deren Aufhebung durch das Kassationsgericht, die Verurteilung zu lebenslänglicher Haft, Revisionen, neue Verhandlungen - ein Fall von Justizwillkür, der sich jahrzehntelang hinzieht, bis heute.
Widerstand und Widerspruch im Namen der Menschenrechte
Nach ihrer Haftentlassung 2000 stürzt sich Selek in die Frauenbewegung, engagiert sich für Antimilitarismus, für die Sache der Kurd:innen, der Armenier:innen. Sie schreibt erfolgreiche Bücher: über die Gewalt an den Transvestiten und Transsexuellen in der Ülker Straße, das Scheitern der Friedensbewegung der Linken, die Rolle des Militärdienstes für die Entwicklung türkischer Männlichkeit.
Eine Nomadin im Exil
2009, als das Kassationsgericht den ersten Freispruch aufhebt und eine lebenslange Haftstrafe für Pinar Selek fordert, flüchtet sie ins Exil nach Deutschland, lebt als "Writers-in Exile-Stipendiatin" des PEN in Berlin, zieht nach Straßburg, dann nach Nizza. Was einen politischen Wandel in der Türkei angeht, macht sie sich heute keinerlei Hoffnungen. "Erinnern wir uns: die Regierung Erdogan trat mit den Versprechungen der Demokratie an und wurde dann vom "tiefen Staat" vereinnahmt mit seinem Geheimdienst, der Mafia und der Ultrarechten."
Eine rastlose Oppositionelle
In den 20 Jahren ihrer Regierungszeit sei die Islamisierung der Gesellschaft über die Bildungsarbeit der muslimischen Bruderschaften deutlich vorangetrieben worden. Pinar Selek bezweifelt, dass es bald einen Wechsel der Regierung Erdogan geben könne, sieht aber ein tieferes Übel im türkischen Staat verwurzelt. "Es gibt eine über 100-jährige Indoktrination der Gesellschaft. Wie kann man davon schnell geheilt werden?"
(Produktion: ORF/SWR 2023)