"Er war als Kind schon glücklich, wenn die Fingernägel schwarz waren," sagt Monika Schlöder aus der Nähe von Bitburg über ihren Sohn Martin. Man glaubt ihr Schmunzeln zu sehen, während man am Telefon mit ihr spricht. Und hört den Stolz in ihrer Stimme, Stolz auf ihren Sohn und Stolz darauf, wie viele Hindernisse sie gemeistert hat, während er aufwuchs.
Ausgebildeter Landschaftsgärtner, führendes Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, Landwirtschaft im Nebenerwerb: Was dies alles erstaunlich macht, ist, dass Martin im Mutterleib einen Schlaganfall erlitt, als Monika Schlöder an einer Grippe erkrankt war, zwischen der 32. und 34. Schwangerschaftswoche. Durch die Grippe hatte sich bei ihr ein Thrombus gebildet. Er wanderte über die Nabelschnur in den Kopf des Kindes und löste dort den Schlaganfall aus.
Diagnose bei Kindern wird oft erst nach Jahren gestellt
Etwa 300 bis 500 Kinder in Deutschland erleiden pro Jahr einen Schlaganfall, fast ein Drittel davon sind Neugeborene. Genaue Zahlen werden bislang allerdings nicht erfasst. Zudem werden nicht alle Schlaganfälle bei Kindern als solche erkannt – oder die Diagnose wird erst in späteren Lebensjahren gestellt.
Davon berichten auch Monika Schlöder und Anja Gehlken. Gehlken ist inzwischen seit Jahren Vorsitzende der bundesweiten Selbsthilfegruppe "Schaki" für Familien mit Schlaganfall-Kindern. Sie lebt im nordrhein-westfälischen Rödinghausen.
Gehlkens Tochter erlitt einen Schlaganfall im Zeitraum der Geburt, diagnostiziert wurde er erst, als das Kind elf Jahre alt war. Bei Schlöders Sohn wurde es medizinisch festgestellt, als der Junge sieben war.
Halbseitige Lähmung eine häufige Folge
Die Folge des Schlaganfalls war in beiden Fällen eine Halbseiten-Lähmung (Hemiparese). Doch eine Ursache dafür erkannten die Ärzte zunächst nicht. Das ist nicht ungewöhnlich bei Neugeborenen. Ein Schlaganfall um die Geburt herum oder sogar während der Schwangerschaft ist schwer zu diagnostizieren, da das Gehirn des Babys noch unreif ist und man auch neurologische Ausfälle in den ersten Monaten nicht unbedingt erkennen kann. Und damals, vor 25 Jahren, stand die Forschung zu "Kind und Schlaganfall" noch ganz am Anfang, wie Schlöder sagt.
Bei ihrer Tochter, sagt Gehlken, hätten sie zunächst nur bemerkt, dass sie ihre rechte Körperseite nicht nutzt und alles mit der linken macht. Intuitiv hätten sie ihr dann alles Spielzeug in die rechte Hand gegeben oder auf die rechte Seite gelegt.
Ganz ähnlich bei Schlöders Sohn: Als er vier, fünf Monate alt war, habe sie festgestellt, dass seine linke Hand immer sehr verkrampft war. Es hieß zunächst, er sei ein extremer Rechtshänder. Als er etwa neun Monate alt war, flogen die Legos mit der rechten Hand durch die Gegend und der linke Arm hing runter, die Hand war zur Faust geballt. Wieder ging es zum Kinderarzt. Man hätte ihm bei der zu schnellen Geburt den Arm eingeklemmt, wurde vermutet und Physiotherapie empfohlen.
Eine Odyssee bei Ärzten und Therapeuten
Es ging weiter mit der Odyssee über Therapeuten und Ärzte. Sie müsse damit leben und solle davon ausgehen, ein schwerbehindertes Kind zu haben. Es werde jede zweite Nacht Krampfanfälle haben. Irgendwann sagte sich Schlöder: Keiner hat eine Ahnung.
Schließlich kam sie zu einer Kinderneurologin, die ihr sagte: Es ist das fitteste Kind mit dieser Diagnose, was ich kenne. Machen sie sich keine Sorgen. Martin hatte zum Glück auch keine epileptischen Anfälle, wie es oft bei Schlaganfall-Kindern auftritt.
Am Uniklinikum Münster wurden der Schlaganfall während Schwangerschaft und die Ursache, das Grippevirus, noch einmal bestätigt. Im Endeffekt war er sieben Jahre, als Martins Mutter die Diagnose schriftlich hatte. Es waren sieben Jahre voller Unwissenheit und Sorgen.
Bundesweites Kompetenzzentrum an der Uniklinik Münster
Auch Anja Gehlkens Tochter wurde am Uniklinikum Münster behandelt. Durch einen Zufall seien ihr Mann und sie auf einen Zeitungsartikel über die Selbsthilfegruppe "Schaki" gestoßen, erzählt Gehlken im Gespräch mit dem SWR. Dadurch hätten sie Kontakt zu Ronald Sträter am Uniklinikum Münster bekommen, einem der Experten für Schlaganfall bei Kindern in Deutschland. Die Kinderklinik in Münster hat sich zu einem Kompetenzzentrum für den kindlichen Schlaganfall herausgebildet. Sträter und sein Team bauen seit Jahren eine Datenbank zu kindlichen Schlaganfällen auf.
Sträter habe ihnen die Diagnose eines Schlaganfalls um die Geburt herum bestätigt. Das sei dann eher eine Erleichterung gewesen, da sie endlich die Ursache erfahren hätten.
Schlöder gründet eine Selbsthilfegruppe in Schweich
Auch Schlöder war auf der Suche nach Ansprechpartnern. Die Stiftung Deutsche Schlaganfall Hilfe bot Familiencamps für Betroffene an. Dort war noch eine weitere Familie aus der Nähe von Trier. Das war der Anstoß dafür, in Schweich, wo Schlöder jahrzehntelang lebte, eine Selbsthilfegruppe (SHG) für Eltern mit Schlaganfall-Kindern zu gründen. "Eine gute Handvoll" Familien aus der Region Trier sei schließlich zusammengekommen. Mehrfach im Jahr gab es Treffen, sonst blieb man per Telefon und SMS in Kontakt. Als ihr Sohn 18 Jahre wurde und sich auch die anderen Kinder dem Erwachsenenalter näherten, lief die SHG aus, erzählt Schlöder.
"Schaki" ist ein Verein mit regionalen Selbsthilfegruppen
"Schaki" mit Sitz in Rödinghausen im Kreis Herford wurde 2005 als kleine Selbsthilfegruppe gegründet. Mittlerweile ist es ein Verein mit 26 regionalen Gruppen und Ansprechpartnern. Regelmäßig gibt es Familienwochenenden mit gemeinsamen Ausflügen und einen Familienkongress mit Einzelberatungen, Vorträgen und Workshops.
Mit welchen Sorgen wenden sich Eltern an "Schaki"? Zunächst sei da natürlich der erste Schock nach der Diagnose, berichtet Gehlken. Die Ärzteschaft habe dann auch nicht immer die zeitlichen Kapazitäten, um sich wirklich um die Fragen der Familien zu kümmern. Da sei zunächst eine große Hilf- und Ratlosigkeit bei den Eltern.
Wichtig sei es, den Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Man müsse ihnen klar machen, dass die Diagnose nicht das Ende, sondern der Beginn von etwas Neuem sei. Man müsse sich die Zeit nehmen, anzukommen in der Situation und dürfe nicht in blinden Aktionismus verfallen.
Der Kontakt mit anderen Betroffenen helfe da sehr. Man könne sich bei anderen mit mehr Erfahrung Rat holen. Gerade in den ersten Jahren bräuchten die Familien Unterstützung, später "gingen sie auch ihrer Wege". Es bildeten sich aber auch Freundschaften fürs Leben. Man erlebe in den Gruppen Normalität. Während man sonst im Alltag eine Sonderrolle habe und anders sei, sei man nun von Menschen umgeben, die alle das gleiche Schicksal in unterschiedlicher Ausprägung hätten. Und die Kinder blühten bei den Treffen auf und nähmen das Selbstbewusstsein mit in den Alltag.
Warum sind Neugeborene besonders gefährdet?
Bei Frau Schlöder ereignete sich der Schlaganfall ihres Sohnes noch im Mutterleib. Häufig treten die Schlaganfälle jedoch auch im Rahmen der Geburt auf.
Jedes Kind, das geboren wird, kommt mit einem Loch im Herzen auf die Welt. Die Blutgerinnung wird während der Schwangerschaft bei Mutter und Kind hochgefahren, damit beide bei der Geburt nicht verbluten. Wenn sich dann ein Gerinnsel bildet und löst, kann es durch das Loch im Herzen ins Gehirn eindringen.
Auf der Seite der Stiftung Deutsche Schlaganfall Hilfe wird es so erklärt: Beim Foramen Ovale handelt es sich um ein Loch zwischen den beiden Vorhöfen des Herzens, das jeder menschliche Embryo hat. Es sollte sich bei der Geburt schließen, doch das gelingt nicht immer, sodass eine wenige Millimeter große Öffnung vorhanden bleibt.
Im Blutkreislauf kann es immer wieder zur Bildung von Gerinnseln kommen. Oft werden diese Gerinnsel in der Lunge aufgelöst. Bei einem offenen Foramen Ovale jedoch kann es dazu kommen, dass ein Gerinnsel in den anderen Vorhof gelangt, bevor es die Lunge durchläuft, und so ungefiltert in das Gehirn gepumpt wird. In den feineren Gefäßen des Gehirns kann es dann zu einem Verschluss führen.
Bei älteren Kindern werden auch andere Ursachen für einen Schlaganfall gefunden, wie etwa eine Gefäßentzündung, genetische Ursachen, eine Gerinnungsstörung oder Infektionen wie die Windpocken.
Unreife des kindlichen Gehirns kann ein Vorteil sein
Der Mediziner Sträter weist in einem Interview mit der Deutschen Schlaganfall Hilfe darauf hin, dass - anders als bei Erwachsenen - ein kindliches Gehirn noch nicht voll ausgereift ist. Es kann die Folgen eines Schlaganfalls daher besser bewältigen. Nur etwa zehn Prozent der Kinder bleiben dauerhaft schwerstbehindert. Krankengymnastik, Ergotherapie oder Logopädie können die Lernbereitschaft des kindlichen Gehirns nach Sträters Angaben fördern.
Das Gehirn sei eine "Wundertüte", meint Anja Gehlken. Man könne keine Prognose abgeben, wie sich das betroffene Kind entwickeln wird. Daher könne man den Eltern nur immer wieder sagen: Verzweifelt nicht, vertraut euren Kindern, die werden ihren Weg machen.
So ist es bei Martin. Er wurde normal eingeschult. Aber bei Schlaganfall-Kindern kann die Konzentration extrem schwankend sein. Zeitweise stand der Besuch einer Lernbehinderten-Schule zur Debatte. Doch Schlöder erhielt Unterstützung von der Leiterin einer Studie zu kindlichem Schlaganfall in Bremen. Mit der richtigen Unterstützung werde Martin einen guten Schulabschluss machen, sagte sie. Und das gelang.
Mit Begeisterung Dienst bei der Feuerwehr
Martins große Leidenschaft seit der Kindheit ist die Feuerwehr. In Schweich durchlief er die komplette Jugendfeuerwehr.
Vor fünf Jahren, als ihr Sohn 20 war, zogen sie in das kleine Dorf in der Nähe von Bitburg. Da er viel Fachwissen durch die Ausbildung in der Schweicher Feuerwehr hatte, sei er sofort stellvertretender Wehrführer der Dorf-Feuerwehr geworden. Mit 22 Jahren war er dann Gruppenführer- und Brandmeister bei der freiwilligen Feuerwehr. Das sei für ihn die Bestätigung, dass man auch mit Beeinträchtigung etwas leisten könne, erzählt seine Mutter.
Der ausgebildete Landschaftsgärtner arbeitet bei der Gemeinde Speicher. Und außerdem will er den leer stehenden Bauernhof seiner Urgroßmutter wieder beleben. Kartoffeln werden angebaut, Martin macht Stroh, macht Heu, Streuobstwiesen gibt es. "Er hat das Paradies auf Erden", sagt seine Mutter.
Schlaganfall-Netzwerk von Kliniken in Rheinland-Pfalz
Der Schlaganfall bei Erwachsenen wird landläufig mit älteren Menschen in Verbindung gebracht. Doch zunehmend trifft es Jüngere. Dazu zählt die Medizin Patienten zwischen 18 und 55 Jahren.
In Rheinland-Pfalz gibt es sechs Stroke Units, die Patientinnen und Patienten mit akutem Schlaganfall behandeln. Hinzu kommen 23 (Stand: Herbst 2023) regionale Stroke Units in kleineren Kliniken. Die sechs Zentren sind auch Teil des telemedizinischen Netzwerkes Temes RLP. An diesem sind ebenfalls noch regionale Schlaganfallstationen beteiligt.
Die telemedizinische Anbindung soll regionalen, nicht neurologisch geführten Stroke Units sowie Krankenhäusern, die über keine Stroke Unit verfügen und außerhalb einer sinnvollen Erreichbarkeit einer bereits bestehenden Stroke Unit liegen, eine 24-stündige teleneurologische Anbindung ermöglichen.