Erinnerungen an die Pogromnacht

Als in Rheinhessen die Synagogen brannten

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Autor/in
Jana Sinram

Vor 81 Jahren setzten die Nationalsozialisten Synagogen in Brand und trieben Juden durch die Straßen - auch in Mainz und Guntersblum. Was genau passierte im November 1938 im heutigen Rheinland-Pfalz?

Es ist sieben Uhr, als beim Gendarmeriemeister in Guntersblum das Telefon klingelt, am Morgen des 10. November 1938. Am anderen Ende der Leitung ist das Landratsamt in Mainz - und gibt den Befehl für das Pogrom an den Guntersblumer Juden. Zwei Dutzend Menschen jüdischer Abstammung leben zu diesem Zeitpunkt in dem kleinen Ort zwischen Oppenheim und Worms.

Die sechs erwachsenen Männer werden in die Bürgermeisterei zusammengetrieben und eingesperrt, die örtliche Synagoge geschändet. "Nicht niedergebrannt", sagt der Journalist und Historiker Sven Felix Kellerhoff, der ein Buch über das Novemberpogrom in Guntersblum geschrieben hat. "Denn die Synagoge war Mitten im Ortskern, wenn man sie angesteckt hätte, wäre das halbe Dorf abgebrannt."

Demütigungsmarsch durch Guntersblum

Die SA-Leute holen Torarollen, Talare und Gebetsschals aus der Synagoge. "Mit diesen heiligen Gegenständen sind die sechs Männer ausgestattet, ja, gewissermaßen verkleidet worden, und mussten dann auf einem mehrstündigen Schandmarsch durch Guntersblum laufen", erzählt Kellerhoff. "Während dieses Marsches sind sie geschlagen und in übelster Art und Weise belästigt worden. Ihnen sind Beine gestellt worden. Einer der beiden Überlebenden, Ludwig Liebmann, wurde mit einem Prügel auf den Kopf geschlagen und jemand hat ihm einen Pferdeapfel in der Wunde zerrieben. Sie sehen also, zu welchen Widerlichkeiten die Täter bereit waren, um die Demütigung noch zu steigern."

Zwei bis vier Stunden dauerte der Schandmarsch, ganz genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren. In der Zwischenzeit werden auch die jüdischen Frauen und Kinder eingesperrt, ihre Häuser geplündert, ein Scheiterhaufen mit der hölzernen Inneneinrichtung der Synagoge errichtet. "Zurück auf dem Rathausplatz hat man die sechs männlichen jüdischen Bewohner von Guntersblum gezwungen, die Torarollen, Talare und Gebetsschals ins Feuer zu werfen. Sie mussten beim Verbrennen dieser Heiligen Gegenstände zuschauen", berichtet Kellerhoff.

Guntersblum - ein Ort unter Tausend

So etwas wie in dem kleinen Ort in Rheinhessen passiert im November 1938 überall in Deutschland. "Guntersblum war ein Ort unter 1.000 Orten", sagt Kellerhoff. Auch in Trier, Speyer, Koblenz und andernorts im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz werden am 9. und 10. November Synagogen geschändet, Juden gedemütigt, ihre Geschäfte zerstört. Mit der Reichspogromnacht, verharmlosend lange als Reichskristallnacht bezeichnet, gaben die Nationalsozialisten offiziell das Signal zum Völkermord an Millionen europäischen Juden.

Die Mainzer Synagoge brennt

In Mainz zünden NS-Schergen schon in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße an, auch die orthodoxe Synagoge in der Flachsmarktstraße wird zerstört. Ein paar Stunden später hämmert eine Gruppe SA-Männer an eine Tür in der Kaiserstraße 53. "Meine Großmutter hat die Tür geöffnet, da haben sie gebrüllt: 'Wo ist der Jud?'", erzählt Monsignore Klaus Mayer, langjähriger Pfarrer der Mainzer Gemeinde St. Stephan. Damals, 1938, war er 15 Jahre alt. "Sie hatte einen trockenen Humor und hat das aufgenommen und gesagt: 'Der Jud ist drin'."

Gemeint ist Mayers Großvater, seit 1909 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Mainz. "Gottlob haben Sie ihm nichts getan, weil er als ehemaliges Mitglied des Stadtrates hochverehrt war", sagt Mayer. "Aber es war schlimm für ihn, zu erleben, wie seine Synagoge verwüstet, in Brand gesteckt und anschließend gesprengt wurde."

"Wir waren daran gewöhnt, ausgegrenzt zu werden"

Mayer, heute 96 Jahre alt, erinnert sich gut, wie er in der Schule im Benediktinerkloster Ettal von den Überfällen auf Synagogen und jüdische Geschäfte erfuhr. "Meine Mutter hat es mir geschrieben. Es war schrecklich. Aber ehrlich gesagt waren wir ja schon fast daran gewöhnt, ausgegrenzt zu werden."

Mayers Großeltern gelingt 1941 im letzten Moment die Flucht nach Argentinien, auch sein jüdischer Vater und sein Bruder haben dort den Krieg überlebt. Er selbst musste nach der Auflösung des Klostergymnasiums in Ettal als Mischling und damit als "Nicht-Arier" die Schule verlassen. Vor allem dank des Einsatzes seiner katholischen Mutter konnte er - unter widrigen Umständen - in Mainz Abitur machen. "Meine Mutter hat mich zweimal geboren", sagt Mayer. "Das erste Mal 1923 und das zweite Mal, indem sie mich durch die Schreckenszeit von 1933 bis 1945 gebracht hat."

Kollektives Schweigen und wichtige Erinnerung

Nach dem Krieg studierte Mayer Theologie, wurde in Mainz zum Priester geweiht, setzte sich ab Mitte der 60er Jahre unermüdlich für den Wiederaufbau der zerstörten St. Stephanskirche und für die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden ein. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass der jüdische Künstler Marc Chagall die berühmten neuen Fenster für St. Stephan schuf. "Es ging mir nicht nur um die Ruinen der Gebäude, sondern vor allem um die Ruinen in den Menschen", sagt er.

Von den sechs Guntersblumer Juden, die die SA am 10. November 1938 durchs Dorf trieb, haben nur zwei den Holocaust überlebt. 23 Menschen aus dem rheinhessischen Dorf wurden in der Shoah ermordet. Vier der Haupttäter vom 10. November wurden später angeklagt, kamen aber mit milden Strafen davon. "Man hat das, was geschehen war, lange kollektiv beschwiegen", sagt Sven Felix Kellerhoff. "Heute gibt es dort aber Menschen, die sich engagieren - zum Beispiel in einer Stolperstein-Initiative."

Nicht zu vergessen, was damals geschah, hält Monsignore Mayer in einer Zeit zunehmenden Hasses für wichtiger denn je. Der Dialog sei noch längst nicht am Ende, sagt er, und äußert seinen wichtigsten Wunsch für die Zukunft: "Dass wir Menschen in Frieden zusammenleben, dass die Menschenrechte gewahrt werden. Und dass wir einander achten."

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Jana Sinram