SWR Aktuell: Seit einem Jahr gibt es jetzt das umstrittene Bürgergeld. Viele bezeichnen es als eine Fehlkonstruktion, weil es angeblich zu wenig Anreize schafft, um eine Arbeit aufzunehmen. Können Sie das aus ihrer alltäglichen Arbeit bestätigen?
Ilka Huber: Das Bürgergeld sollte die Anspruchsberechtigten dazu animieren, auf Augenhöhe mit unseren Fachkräften zu sprechen und ein Mitspracherecht insbesondere bei Weiterbildungen zu erhalten. Es entstand jedoch bei Einigen offenbar der Eindruck, dass sie Geld erhalten, ohne bei irgendwas mitzuwirken. Deshalb hat der Gesetzgeber jetzt in 2024 auch schärfere Sanktionen eingeführt. Die kurzfristigen Veränderungen bedeuten für unsere Vermittlungsfachkräfte aber einen hohen Kommunikationsaufwand.
SWR Aktuell: Ist die Zahl der Bürgergeldanträge im Kreis Alzey-Worms im Vergleich zu Hartz IV seit Einführung gestiegen?
Huber: Die Anzahl der Anträge ist in unserem Haus deutlich gestiegen, vor allem solche ohne Aussicht auf Erfolg. Wegen der Namensänderung von Hartz IV in Bürgergeld ist vielen Antragstellenden nicht klar, wer genau Anspruch auf Bürgergeld hat. Verschärft wurde die Situation auch durch die Möglichkeit, Anträge komplett digital zu stellen. Dies wird bei uns bereits in großer Anzahl genutzt.
SWR Aktuell: Sind viele Antragsteller überhaupt berechtigt, Bürgergeld zu erhalten oder wurden von der Politik hier falsche Erwartungen geweckt?
Huber: Die gesetzlichen Bestimmungen im Bereich SGB II sind sehr komplex und nicht auf Anhieb zu durchschauen. Daran hat sich auch mit dem Bürgergeld leider nichts geändert. Bei der Einführung des Bürgergelds wurde der Eindruck erweckt, es sei unbürokratischer. Insofern ist für Antragsteller und Antragstellerinnen im Vorfeld nicht berechenbar, ob sie tatsächlich einen Anspruch haben oder nicht. Im Zweifel stellen sie dann einen Antrag.
Die unberechtigten Antragstellungen binden in unserem Haus erhebliche personelle Ressourcen. Hier versuchen wir durch Pressemitteilungen und Veröffentlichungen auf unserer Homepage gegenzusteuern.
SWR Aktuell: Das Bürgergeld soll Arbeitslose ja stärker als früher zu Hartz-IV-Zeiten in eine Qualifizierung und später einen Job bringen. Funktioniert das in ihrem Bereich?
Huber: Die Mittel im Bereich Qualifizierung und arbeitsmarktnahen Förderinstrumenten wurden in unserem Haus in 2023 und insbesondere 2024 erheblich aufgestockt. Einen Zusammenhang zwischen Bürgergeld und erhöhter Motivation für Qualifizierungen können wir derzeit nicht erkennen. Seriöse Aussagen sind allerdings bei einem so kurzen Zeitraum nicht möglich; die Politik ist offensichtlich nicht zufrieden und verschärft deshalb die Mitwirkungstatbestände in 2024.
SWR Aktuell: In Deutschland erhalten ja Ukraine-Flüchtlinge sofort Bürgergeld. Heftig diskutiert wird da der Umstand, dass in Holland und Dänemark etwa 60 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge arbeiten, bei uns aber nur 19 Prozent. Woran liegt das? Machen wir es den Ukrainerinnen und Ukrainern zu bequem?
Huber: Im Gegensatz zu den genannten Ländern wurde in Deutschland zunächst auf Erwerb von Sprachkompetenz mit dem Ziel der nachhaltigen fachgerechten Integration gesetzt, da die Ukrainer und Ukrainerinnen in der Regel eine gute berufliche Vorbildung mitbringen, die allerdings hier erst anerkannt werden muss. Dies dauert aber leider in der Regel recht lange.
In anderen Ländern ist man den umgekehrten Weg gegangen: Erst eine Arbeit aufnehmen und dabei die Sprache lernen. In diesen Ländern erhalten die ukrainischen Flüchtlinge dadurch weniger finanzielle Leistungen, weil sie ja arbeiten.
Mangel an Sprachkursen und schlechter ÖPNV Warum fast 90 Prozent der Ukrainer in der Region Trier nicht arbeiten
Seit Ausbruch des Krieges sind mehr als 4.000 Ukrainer in die Region Trier geflohen. Die meisten von ihnen beziehen Bürgergeld. Denn eine Arbeit zu bekommen, ist schwierig. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Bei uns steuert die Politik im Jahr 2024 jetzt mit dem sogenannten Job-Turbo um und möchte nun auch früher in Arbeit vermitteln und Qualifizierungen sowie Spracherwerb vor Ort in Betrieben organisieren.
Dazu sind übergreifende Absprachen nötig. Ferner muss bei der Kinderbetreuung nachgeplant werden, da der hohe Zugang an Geflüchteten und im Fall der Ukrainer überwiegend Frauen mit Kindern in der Jugendhilfeplanung so nicht berücksichtigt werden konnten. Hier brauchen wir flexible Modelle.
SWR Aktuell: Umstritten ist auch die Frage, welche Sanktionen Bürgergeld-Bezieher erhalten, die sich einer Qualifizierungsmaßnahme oder Arbeitsaufnahme verweigern. Brauchen Sie und Ihre Beraterinnen und Berater nicht auch Druckmittel?
Huber: Auch in der Vergangenheit haben wir in unserem Haus vergleichsweise wenig Sanktionen verhängt. Die Möglichkeit dazu hat aber nach Einschätzung unserer Fachkräfte für alle Leistungsbezieher und -bezieherinnen verdeutlicht, dass mit Erhalt der Leistungen eine Mitwirkungspflicht verbunden ist. Das hat aus unserer Sicht eigentlich ganz gut funktioniert, auch wenn in der Öffentlichkeit und der Presse häufig der Eindruck erweckt wurde, wir würden überwiegend mit Zwang arbeiten.
Das entsprach auch in der Vergangenheit nicht unserer Arbeitsweise, da man fürs Lernen nur motivieren und es nicht erzwingen kann. Etwas anders verhält es sich bei der Arbeitsaufnahme. Hier muss man wichtige Gründe haben, wenn man einen zumutbaren Arbeitsplatz ablehnt.
SWR Aktuell: Sind 50 Euro weniger, wirklich eine ausreichende Sanktion, um arbeitsunwillige Bürgergeld-Bezieher zu motivieren?
Huber: Es stellt sich hier die Systemfrage. Unsere Verfassung gewährt zu Recht jedem eine Grundsicherung, die bedarfsdeckend sein muss. Das Problem ist der Lohnabstand, der sich in den letzten Jahren immer weiter verringert hat. Trotz Nachbesserung beim Bürgergeld gibt es zu geringe Arbeitsanreize, da nach wie vor ein hoher Anteil des Hinzuverdienstes auf das Bürgergeld angerechnet wird. Deshalb weichen manche Bezieherinnen und Bezieher in die Schwarzarbeit aus. Das war bei Hartz IV aber auch schon so.
SWR Aktuell: Wo sehen Sie als Praktikerin noch Verbesserungsbedarf beim Bürgergeld?
Huber: Die Berechnungsverfahren beim Bürgergeld sind sehr kompliziert. Hier würde ich mir wünschen, dass das Verfahren deutlich vereinfacht wird, etwa durch Pauschalen.