Türkische Rechtsextremisten auf der Wahlliste der SPD in Filderstadt (Kreis Esslingen), der Bezug eines Kandidaten aus Trier zur rechtsextremistischen Gruppe Revolte Rheinland. Meldungen der vergangenen Wochen zur anstehenden Kommunalwahl am Sonntag. Nur Einzelfälle? Eine öffentlich einsehbare Übersicht zu den fast hunderttausend Kandidierenden gibt es in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nicht. Die Gemeinden sind zwar verpflichtet, ihre Wahlvorschläge zu veröffentlichen. Doch wie genau sie das tun, ist nicht einheitlich geregelt. Daher ist eine flächendeckende Recherche zu den Kandidierenden nur mit sehr großem Aufwand möglich.
Ein SWR-Team aus Datenjournalisten und Reportern hat sich rund 3.000 zufällig ausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten verschiedener Parteien und Bündnisse genauer angesehen. Wie viele Extremisten sind unter ihnen? Trotz der im Vergleich zu den insgesamt etwa 100.000 Kandidierenden nur relativ kleinen Zufalls-Auswahl fanden die Reporterinnen und Reporter etwa eine Handvoll Kandidierende mit extremistischen Bezügen. Als möglichen Fall zählte das SWR-Team, wer öffentlichen und über Suchmaschinen zugänglichen Quellen zufolge Organisationen oder Netzwerken nahesteht, die in den Verfassungsschutzberichten der beiden Bundesländer Erwähnung finden.
Bezüge zu Linksextremismus
Drei der nach einem Zufallsprinzip ausgewählten Bewerberinnen und Bewerber zur Kommunalwahl wiesen einen Bezug zu vom baden-württembergischen Verfassungsschutz als linksextrem eingestuften Parteien oder Netzwerken auf. So ist die Kandidatin eines unabhängigen Wählerbündnisses für den Gemeinderat Albstadt (Zollernalbkreis) Repräsentantin der vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) im Kreisverband Zollernalb. Laut aktuellem Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz hat die Partei das Ziel, eine klassenlose kommunistische Gesellschaft zu errichten.
Auf SWR-Anfrage teilt die betreffende Kommunalwahl-Kandidatin mit, der Verfassungsschutz "bespitzelt und diffamiert viele linke und fortschrittliche Organisationen". Die MLPD sei nicht linksextremistisch. Das Bündnis, für das sie bei der Kommunalwahl kommenden Sonntag antrete, grenze "Marxisten-Leninisten" nicht aus, sondern schätze deren Kompetenz und Engagement.
Gewalt-Forschung Wie Extremismus früh erkannt werden kann
Zwei Studien haben neue Erkenntnisse über extremistisch handelnde Personen erlangt. Ziel der Forschung ist es, die Entstehung ideologischer Ansichten früh zu erkennen, um den Menschen zu helfen.
Die Reporterinnen und Reporter stießen über die Zufallsauswahl auf zwei weitere Kandidierende, die Bezüge zu Linksextremismus aufweisen. Darunter eine für eine linke Liste antretende Kandidatin, die in einem öffentlich zugänglichen Dokument als Ansprechpartnerin für das Netzwerk "marx21" in Baden-Württemberg genannt wird. Aus dem Dokument geht nicht hervor, von wann es ist. Auch "marx21" wird vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet. Das Bundesamt für Verfassungsschutz rechnet das Netzwerk der Strömung der Trotzkisten zu, die teils offen, teils verdeckt, versuchten "Aktionsbündnisse, Kampagnen und Organisationen mit ihren trotzkistischen Kadern zu infiltrieren". Trotzkistische Strukturen wie das Netzwerk "marx21" rängen darum, "Einfluss auf den politischen Diskurs zu nehmen", heißt es im aktuellen Verfassungsschutzbericht des Bundes.
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In der zufälligen Auswahl an Kandidierenden stießen die Reporterinnen und Reporter auch auf einen AfD-Bewerber für den Stuttgarter Gemeinderat, der gleichzeitig auch im Landesvorstand der Jungen Alternativen Baden-Württemberg tätig ist. Die Junge Alternative (JA) wird vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Der Kandidat sagt auf SWR-Anfrage, unabhängig davon, was der "sogenannte Verfassungsschutz" sage, stehe man für eine "Veränderung dieses Landes und folglich Stuttgarts" ein. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht die politische Agenda der Jugendorganisation von einem "ethnisch-kulturellen Volksbegriff" geprägt, der "gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes" verstoße und "im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung" stehe.
Verfassungsschutz: Keine Regelüberprüfung von Kandidierenden
Über die mittels Zufallsauswahl überprüften Kandidierenden hinaus stießen die Reporterinnen und Reporter bei ihren Recherchen auf weitere Fälle. So fanden sie zwei Kandidaten aus Baden-Württemberg, die auf migrantisch geprägten Listen zur Wahl antreten und Bezüge zur Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) haben oder hatten. Die IGMG wird vom Verfassungsschutz in Baden-Württemberg als bedeutendste Organisation der Bewegung "Millî Görüş" bezeichnet, die "antiwestliche und antisemitische Züge" aufweise und "in weiten Teilen nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar" sei.
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Insgesamt fand das SWR-Recherche-Team unter den 3.000 Kandidierenden vergleichsweise wenige Hinweise auf solche mit extremistischen Bezügen. Allerdings konnten sie auch nicht überprüfen, inwieweit einzelne Kandidatinnen oder Kandidaten - etwa unter Pseudonym im Internet - verfassungsfeindliche oder extremistische Ansichten vertreten. Auch dürfte es für Wählerinnen und Wähler im Zweifel schwierig sein, problematische Fälle überhaupt zu erkennen.
Zuletzt waren vereinzelt Fälle von Kommunal-Kandidierenden mit mutmaßlich extremistischen Bezügen bekannt geworden. Demnach hatte ein AfD-Bewerber aus Trier offenbar Kontakte in die rechtsextremistische Szene. Zuvor wurde ein ähnlicher Fall in Koblenz bekannt. In Filderstadt (Kreis Esslingen) distanzierte sich die SPD von drei ihrer Kandidierenden für die Kommunalwahl wegen deren Nähe zur Gruppe "Graue Wölfe", die vom Verfassungsschutz als türkisch-rechtsextremistisch eingestuft wird. Ein Sprecher des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg teilte dem SWR auf Anfrage mit, "eine Regelüberprüfung von Personen, die zu Wahlen (auch Kommunalwahlen) antreten" finde nicht statt. Durch die Beobachtung extremistischer Bestrebungen wisse man allerdings, wenn extremistische Organisationen selbst zu Wahlen antreten, so beispielsweise extremistische Parteien wie "Die Heimat" oder die MLPD.