Gewalt-Forschung

Wie Extremismus früh erkannt werden kann

Stand
Autor/in
Oliver Schönfeld

Zwei Studien haben neue Erkenntnisse über extremistisch handelnde Personen erlangt. Ziel der Forschung ist es, die Entstehung ideologischer Ansichten früh zu erkennen, um den Menschen zu helfen.

Mann mit Megafon schreit seine Wut heraus
Forscher:innen an der Cambridge-Universität und der NYU in Abu Dhabi erforschen, warum bestimmte Menschen für extremistische und ideologische Ansichten anfälliger sind.

Die Kombination ist entscheidend

Es ist von großer sozialer und gesellschaftlicher Bedeutung, mehr über Menschen zu erfahren, die sich gewalttätigen, ideologischen Gruppen anschließen. Warum beteiligen sie sich an Grausamkeiten anderen gegenüber? Eine Studie der Cambridge Universität legt nun nahe, dass eine Mischung aus Persönlichkeitsmerkmalen und unterbewussten Wahrnehmungsprozessen zu unterschiedlichen extremistischen Ansichten führen kann.

Außerdem zeigen Forschungsergebnisse der Assistenzprofessorin für Psychologie an der New York University Abu Dhabi, Jocelyn Bélanger, dass ideologische Besessenheit als eine Form von Suchtverhalten gesehen werden kann. Diese Studie erklärt außerdem, warum Menschen zu ideologisch motivierter Gewalt greifen und wie ihnen am besten geholfen werden kann.

Campus der Cambridge Universität in England
An der Cambridge-Universität entdeckten Forscher durch einige Studien eine "psychologische Signatur", die zu extremistischen Ansichten führen kann.

Cambridge-Forscher: Kombinationen von Persönlichkeitsmerkmalen

Die Teilnehmenden der Cambridge-Studie im Alter von 22 und 63 Jahren kamen alle aus den USA und die Gruppe bestand fast zur Hälfte aus Frauen. Bei Menschen mit extremistischen Ansichten entdeckten die Forscherinnen und Forscher gemeinsame psychische Merkmale. Sie stellten bei diesen Personen ein schlechteres Arbeitsgedächtnis fest, das sogenannte "working memory". Das ist beispielsweise zuständig, wenn man sich eine längere Telefonnummer merken möchte, um sie später zu notieren.

Des Weiteren zählen die Forschenden langsamere Wahrnehmungsstrategien zu den gemeinsamen Merkmalen. Das heißt, dass diese Personen es langsamer unterbewusst verarbeiten, wie Umweltreize, zum Beispiel Formen oder Farben, sich ändern. Außerdem neigen radikal denkende Menschen eher zur Impulsivität und Sensationssuche - Persönlichkeitsmerkmale, die auch bei dogmatischen und konservativen Menschen wiedergefunden wurden.

Es gibt nur die eine Wahrheit

Dogmatismus, also unkritisch an Überzeugungen festzuhalten, spielt ebenfalls eine große Rolle in der Studie. Die Cambridge-Forscher stellten fest, dass dogmatische Menschen Reize in ihrer Umgebung langsamer aufnehmen, jedoch eher eine impulsive Persönlichkeit besitzen. Dogmatisch denkende Personen übernehmen eher unreflektiert vorgefasste Denkweisen und halten anschließend unbeirrt daran fest. Ähnlichkeiten lassen sich auch bei konservativ geprägten Menschen finden, sprich Personen, die vor allem Stärken von Traditionen betonen. Neue Entwicklungen betrachten diese Menschen eher kritisch oder fühlen sich bedroht.

Unter der Friedensbrücke in Frankfurt erinnert ein 27 Meter langes Gedenk- Graffiti an die Opfer des Attentats in Hanau am 19. Februar 2020.
Laut der Cambrigde-Studie neigen ideologisch denkende Menschen eher zu impulsiven Handlungen.

Die "psychologische Signatur" für Extremismus ist, laut den Forschenden aus Cambridge, eine Mischung aus konservativen und dogmatischen Denkweisen. Diese Menschen seien eher zu Gewalt bereit, um ideologisches Gedankengut zu unterstützen. Sie besäßen ein festes Weltbild und seien gegen Beweise "resistent". Das Team um Dr. Leor Zmigrod, Co-Autorin der Studie, ist demnach der Ansicht, dass diese Forschung dazu beitragen könnte, Menschen, die im gesamten politischen und religiösen Spektrum am anfälligsten für Radikalisierung sind, schon früher zu identifizieren und ihnen zu helfen.

Ideologische Besessenheit

Wissenschaftler:innen von der NYU in Abu Dhabi kommen in einer Studie zusätzlich zu weiteren Erkenntnissen. Demnach durchlaufen Menschen mit ideologischen Ansichten vier Prozesse auf dem Weg zur Gewalt:

1. Moralische Loslösung: Ideologische Besessenheit deaktiviert die eigene Selbstbeschuldigung. Den Personen fällt es dadurch leichter, unmoralisch zu handeln, ohne sich selbst schuldig zu fühlen.

2. Hass: Ideologisch Besessene fühlen sich eher von Gegenargumenten bedroht, die die eigenen Überzeugungen kritisieren. Das schürt Hassgefühle und führt eher zu potenziell gewalttätigen Handlungen.

3. Soziale Interaktion: Sie suchen eher Kontakt zu Gleichgesinnten oder interessieren sich für Netzwerke, die ihre gewalttätigen Überzeugungen teilen.

4. Psychologische Reaktanz: Laut dieser Studie sind diese Menschen nicht zugänglich für Argumente, die sie von Gewalt abbringen wollen. Sie fühlen sich eher in ihren Freiräumen eingeengt und bedroht und reagieren deshalb radikal.

Ideologische Literatur von einer nationalistischen Gruppierung bei einer Razzia in Russland entdeckt.
Die Forscher aus Abu Dhabi sehen ideologische Besessenheit als eine Suchtkrankheit.

Reiches und befriedigenderes Leben

Gewalttätige und radikale Menschen nur mit aufklärerischem Material umstimmen oder ermahnen zu wollen, ist meist sogar kontraproduktiv. Laut Jocelyn Bélanger, der Psychologin aus Abu Dhabi, müsse man das extremistische Verhalten eher wie eine Sucht behandeln. Um Radikalisierungsprozesse umzukehren, hilft es demnach, die persönliche Bedeutung der Personen zu stärken und hervorzuheben.

"Um Menschen von ideologisch motivierter Gewalt fernzuhalten, müssen wir uns auf ihre psychologischen Bedürfnisse, wie Bedeutsamkeit und Zugehörigkeit, konzentrieren und helfen, ein erfülltes, zufriedenstellendes und ausgeglicheneres Leben zu führen."

Ein Anti-Lockdown-Demonstrant trägt eine Maske und hält schreiend ein Smartphone nach oben.
Menschen können sich bedroht fühlen, wenn ihre Überzeugungen kritisiert oder angegriffen werden.

Hohe Gewaltbereitschaft

Über alle untersuchten Ideologien hinweg zeigte sich eine hohe Bereitschaft für ideologisch motivierte Gewalt. Dr. Zmigrod stellt zudem fest, dass Menschen, die Schwierigkeiten haben, komplexe Inhalte zu verarbeiten, eher dazu neigen, extremen Grundsätzen zu folgen. Das mache sie anfälliger für dogmatische und autoritäre Ideologien.

"Es scheint verborgene Ähnlichkeiten in den Köpfen derjenigen zu geben, die am ehesten bereit sind, extreme Maßnahmen zur Unterstützung ihrer ideologischen Doktrinen zu ergreifen. Wenn wir dies verstehen, können wir den für Extremismus anfälligen Personen helfen und das soziale Verständnis über ideologische Grenzen hinweg fördern."

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Oliver Schönfeld