Mediziner sezierten Leichen von Hingerichteten

Anatomie in Tübingen arbeitet dunkles Kapitel der Geschichte auf

Stand
Autor/in
Sarah Beschorner

Im Nationalsozialismus forschten Mediziner an Körpern von verfolgten und hingerichteten NS-Opfern. Eine Sonderausstellung in der Alten Anatomie in Tübingen beleuchtet nun die Zeit.

Im Nationalsozialismus sezierten unter anderem Tübinger Mediziner scheinbar bedenkenlos zu Forschungszwecken die Körper von hingerichteten NS-Opfern. In einer Sonderausstellung in der Alten Anatomie wird das Verhalten der Mediziner während und nach der Verfolgungspolitik beleuchtet. Die Ausstellung "Entgrenzte Anatomie. Eine Tübinger Wissenschaft und der Nationalsozialismus" wird am Montag, 17. April eröffnet. Der Eintritt ist frei.

In der NS-Zeit wurden in der Medizin ethische Grenzen überschritten. Anatomen auch aus Tübingen zogen die Körper von ermordeten Menschen für ihre Forschung und Lehre heran. In der Zeit der Verfolgung unter anderem von Juden, Sinti und Roma war es leicht, an Leichen zu kommen.

Ausstellungsstück in der Alten Anatomie Tübingen
In diesem Buch wurde handschriftlich vermerkt, welche Organe dem Körper entnommen und seziert wurden.

Ausstellung zeigt Objekte und Dokumente aus der Nazizeit

Die Ausstellung in der Alten Anatomie in Tübingen erkundet anhand von Objekten, Dokumenten und Interviews die Geschichte der Anatomie. Die Präparate von NS-Opfern jedoch wurden schon in den 90er Jahren auf Druck von Studierenden entfernt. Es geht aber auch um die Frage, ab wann sich die Tübinger mit den Verfehlungen kritisch auseinander gesetzt haben. Medizin- und Geschichtsstudierende haben die Ausstellung im Gebäude der Alten Anatomie in Forschungsprojekten gemeinsam erarbeitet.

"Hier haben die Anatomen entgrenzt gearbeitet, weil sie bestimmte ethische Grenzen überschritten haben."

Seit der 1980ger Jahre ist die Verstrickung der Tübinger Anatomie in die NS-Gewaltverbrechen bekannt. Doch bis heute findet sich vor Ort kein Hinweis auf die NS-Opfer, die dort für Lehre und Forschung verwertet wurden, noch immer fehlt auch ein Hinweis auf diese Entgrenzung der Anatomen am historischen Ort, so Prof. Dr. Benigna Schönhagen vom Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Uni Tübingen. Die Medizinstudierenden müssen sich aber mit der Geschichte der Medizin auch beschäftigen, so Prof. Dr. Bernhard Hirt vom Institut für Klinische Anatomie. "Bei den Studierenden haben wir offene Türen eingerannt. Das Interesse war groß."

In einem Raum der Ausstellung sind echte Leichentücher aufgehängt, auf denen Namen der Verstorbenen, deren Körper in der Anatomie seziert wurden, drauf geschrieben sind. "Mir war es wichtig, den Menschen eine Körperlichkeit zu geben. Leichentücher werden ja auf die Körper gelegt. Die Tücher hängen daher wie Leichenhemden", erklärt Stephan Potengowski, der die Ausstellung konzipiert und gestaltet hat. Zur Ausstellung gibt es ein Begleitprogramm mit Führungen, Lesungen und Podiumsdiskussionen.

Aufarbeitung der Geschichte anhand vom Gräberfeld X

Eines der Projekte beinhaltete die Suche in Tübingen nach sterblichen Überresten von ermordeten Kindern aus der NS-Zeit. Die Universität hatte dafür extra Präparate vom Tübinger Stadtfriedhof exhumieren lassen. Ein internationales Forscherteam hatte in Tübingen nach einer medizinischen Sammlung namens "Ostertag" gesucht. Laut Uni bestand der Verdacht, dass Teile dieser Sammlung auf dem Stadtfriedhof im Gräberfeld X vergraben sind - einem Gedenkort, an dem mehrere hundert Opfer der NS-Gewaltherrschaft begraben liegen.

Bei der Beisetzung auf dem Gräberfeld X des Tübinger Stadtfriedhofs waren Vertreter der Stadt und der Universität dabei.
Im Vordergrund ist Stadtdekanin Elisabeth Hege zu sehen. Im Hintergrund stehen Karl G. Rijkhoek, der Leiter der Hochschulkommunikation, die Leiterin des Forschungsprojekts zum Gräberfeld X, Benigna Schönhagen, der Leiter der klinischen Anatomie, Prof. Dr. Bernhard Hirt, sowie Pfarrer Ulrich Skobowsky.

Organteile von Kindern in Tübingen untersucht

Die Sammlung "Ostertag", benannt nach einem Pathologen, bestand mutmaßlich aus Hirnschnitten von über Hundert Kindern, die während des zweiten Weltkriegs in einer Einrichtung für psychisch Kranke in Berlin ermordet wurden. Diese Sammlung war nach dem Krieg im damaligen Institut für Hirnforschung Tübingen verwahrt worden.

Aus dem Gräberfeld X waren insgesamt vier Behältnisse exhumiert worden. Die Präparate ließen sich jedoch laut Mitteilung nicht der gesuchten Sammlung zuordnen.

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wbg Theiss Verlag, 456 Seiten, 38 Euro
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