An diesem Montag diskutieren Politikerinnen und Politiker im Verkehrsausschuss in Berlin über ein neues Eisenbahngesetz, dessen mögliche Folgen die Stadt Stuttgart fürchtet. Denn mit der neuen Formulierung könnten auch konkrete Bauprojekte wie das Stuttgarter Rosensteinquartier verhindert werden. Das Gesetz wurde durch das Bundesverkehrsministerium und die Ampelregierung initiiert, um Eisenbahnanlagen einen höheren Stellenwert zu gewährleisten und die Bebauung stillgelegter Gleisflächen zu erschweren.
Seit einem Jahr ist der neue Paragraf 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes im Bund in Kraft. Immer lauter werden die Rufe, dass die Politiker damit übers Ziel hinaus geschossen sind.
AEG Paragraf 23: Schützen von Gleisanlagen
Warum überhaupt wurde der Paragraf 23 im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG) geändert? Das Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene erklärte dazu in Berlin, der Schienenverkehr habe seit den 90er-Jahren deutlich zugenommen, während aber hingegen Gleisanlagen zurückgebaut und stillgelegt wurden. "Wo einmal eine Umgehungsstraße oder ein Haus auf einer ehemaligen Bahntrasse gebaut wurde, kann in Zukunft kein Zug mehr fahren", so Dirk Flege von Allianz Pro Schiene auf SWR-Anfrage.
Doch heute würde man oft die Flächen gerne wieder für den Bahnverkehr nutzen. Daher gelte es, die verbleibenden Gleisflächen zu schützen. So sah es auch das Verkehrsministerium unter Volker Wissing (damals FDP). Laut Bundestagsabgeordneten brachte das Bundesverkehrsministerium den Vorschlag ein, er wurde so auch umgesetzt. "Es ist ein Fortschritt, dass die Ampel strengere Maßstäbe angelegt hat, wenn Bahntrassen zweckentfremdet werden sollen. Denn in der Vergangenheit wurden zu oft Zukunftschancen für den Schienenverkehr im wahrsten Wortsinn verbaut", erklärt Dirk Flege.
Stuttgart 21 und andere Projekte: Übers Ziel hinaus geschossen?
Seit Dezember - also seit gut einem Jahr - gilt das neue Gesetz. Die Entwidmung von Gleisflächen ist seitdem deutlich schwieriger. Welche Konsequenzen das aber konkret bedeuten könnte, wurde einigen Verantwortlichen erst Monate später klar: Bauprojekte von Städten und Kommunen könnten plötzlich nicht mehr umgesetzt werden. Die Stadt Stuttgart und auch der Städtetag fragen beim Eisenbahnbundesamt nach der Rechtsauslegung. Das Ergebnis: Bebauungen wie Wohnprojekte sind auf ehemaligen Gleisflächen nicht mehr ohne weiteres möglich.
Wohnungen statt Gleise Städte fürchten wegen neuer Rechtslage um Bauprojekte - auch S21 betroffen?
Häuser und Wohnungen, wo früher Gleise lagen: Eine Gesetzesänderung könnte solche Bauvorhaben wie am Stuttgarter Hauptbahnhof fast unmöglich machen, warnt der Deutsche Städtetag.
Dabei hatte gerade die Stadt Stuttgart einst dem Großprojekt Stuttgart 21 zugestimmt, damit ein neues Stadtviertel, das sogenannte Rosensteinquartier, auf dem Gleisvorfeld gebaut werden kann - mit tausenden Wohnungen. Doch nach aktueller Gesetzeslage dürfen nur noch Bauprojekte, die im "überragenden öffentlichen Interesse" sind, umgesetzt werden. Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) schlug entsprechend Alarm: Das leidgeplagte Projekt Stuttgart 21 ohne den eigentlichen Mehrwert für die Landeshauptstadt - für ihn unvorstellbar. Von "kollektiver Verwirrung" war die Rede. Nopper forderte erneut eine Anpassung des Paragrafen 23 - und der Gemeinderat will gegen das neue Gesetz Verfassungsklage einreichen.
Neufassung des Eisenbahngesetzes verhindert Wohnungsbau Rosenstein-Quartier Stuttgart: Stadt reicht Verfassungsklage ein
Der Gemeinderat Stuttgart hat am Donnerstagabend beschlossen, gegen das neue Eisenbahngesetz zu klagen. Aktuell wird der Bau neuer Wohnungen im Rosenstein-Quartier auf freiwerdenden Gleisflächen verhindert.
Stuttgart-21-Gegner für neue Gesetzeslage
Anders hingegen sehen es die Stuttgart-21-Gegner. Von früherer "leichtfertiger Entwidmung" ist da die Rede. Und die Akteure vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 kämpfen erneut um den Erhalt des alten Kopfbahnhofs. Die Sorge überwiegt, dass der neue unterirdische Durchgangsbahnhof zu klein sein könnte. "Dass es einen nicht zu leugnenden Bedarf an zusätzlichen oberirdischen Gleisen gibt, belegen die zahllosen Bemühungen von Bahn und Politik der letzten Jahre, das Kapazitätsproblem von Stuttgart 21 bei Abbau der Kopfbahnhofgleise zu lösen", so Werner Sauerborn, Sprecher des Bündnisses in Berlin. Daher würde die jetzige Formulierung des Eisenbahngesetzes genau das leisten, was es soll: Eisenbahnanlagen und Gleisflächen, die man womöglich in wenigen Jahren wieder brauchen würde, zu schützen.
Verkehrsausschuss berät in Berlin
Auf politischer Seite scheint den meisten klar: Bauprojekte wie das Rosensteinquartier in Stuttgart sollten eigentlich durch das neue Gesetz nicht verhindert werden. Auch der Grünen-Verkehrsexperte und Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel (Wahlkreis Nürtingen) erklärt auf SWR-Nachfrage: "Auf Stuttgart bezogen besteht weitgehend unstrittig für einen Großteil der Flächen kein bahnbetrieblicher Bedarf mehr." Er sieht das Problem in der Auslegung des Eisenbahnbundesamtes. Juristen müssten erläutern, ob Wohnbebauung tatsächlich ausscheidet. "Aus unserer Sicht muss insbesondere genauer definiert werden, was ein langfristiger Bedarf ist."
Die CDU/CSU-Fraktion hingegen hat bereits einen neuen Gesetzesvorschlag vorgebracht, der weitestgehend wieder die alte Rechtsfassung vorsieht. Zu diesem Vorschlag findet am Montagnachmittag eine Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestages in Berlin statt. Nicht nur Bündnisse wie Allianz Pro Schiene, auch der Stuttgarter Baubürgermeister Peter Petzold (Grüne), der Stuttgarter Vertreter des Mieterbundes Rolf Gaßmann sowie der Sprecher der S21-Gegner Werner Sauerborn bringen dort als Sachverständige ihre Perspektive vor. Ein Ergebnis wird am Montag noch nicht erwartet.
Zwar ist der Kerngegenstand ein Bundesgesetz, aber in der Diskussion wird deutlich: Das Beispiel in Stuttgart zeigt, welche offenen Fragen es rund um das neue Eisenbahngesetz gibt.