S-Bahn hatte E-Bike überrollt und war auf freier Strecke stehen geblieben

Stundenlang in S-Bahn eingesperrt: Betroffene berichtet von chaotischen Zuständen

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Vanessa Sieck
Vanessa Sieck

Stundenlang sitzt Carmen Mühleisen in einer S-Bahn zwischen den Haltestellen Favoritepark und Freiberg fest - zusammen mit rund 100 Fahrgästen. In der Wartezeit hilft sie anderen.

Es ist Mittwochabend, der 11. Oktober, als um kurz vor 21 Uhr eine S-Bahn der Linie S4 zwischen den Haltestellen Favoritepark und Freiberg (Kreis Ludwigsburg) stehen bleibt. Unter den Fahrgästen ist auch Carmen Mühleisen. Sie denkt sich zunächst nichts bei dem Stopp: "Das kommt ja öfters mal vor, und man wartet dann auf einen anderen Zug." Doch dieses Mal ist es anders: Die S-Bahn hat gerade ein E-Bike überrollt und kann nicht mehr weiterfahren. Draußen ist es bereits stockfinster. "Man hat nichts gesehen, wir waren irgendwo in der Pampa", erinnert sich Carmen Mühleisen.

Dreieinhalb Stunden Wartezeit statt elf Minuten Fahrzeit

Der Lokführer gibt immer wieder über Durchsagen seinen Wissensstand durch. "Man hat aber an seiner Stimme gemerkt, dass er nervös ist. Er hat auch mehrfach 'eventuell' gesagt", erzählt Carmen Mühleisen, die mit der S-Bahn von Ludwigsburg nach Marbach fahren wollte. Aus eigentlich elf Minuten Fahrt werden für sie an diesem Abend dreieinhalb Stunden Wartezeit.

Rund 100 Menschen befinden sich an diesem Abend mit Carmen Mühleisen in der S-Bahn. Zunächst sei die Stimmung noch entspannt gewesen. "Viele haben auf ihrem Handy gedaddelt, andere haben sich unterhalten", erzählt sie. Ein Mann habe bei seinem Arbeitgeber angerufen, dass er es vielleicht nicht mehr pünktlich zu seiner Nachtschicht schaffe. Nach einer guten Dreiviertelstunde beobachtet Carmen Mühleisen dann, wie die Stimmung langsam kippt.

Die jungen Leute konnten nicht mehr sitzen. Sie haben an den Stangen in der Bahn Klimmzüge gemacht. Sie wussten nicht, wohin mit ihrer Energie. Ein Mann mit Handicap fing dann an: Ich habe Hunger, ich habe Durst. Ich muss Pipi, ich muss so dringend Pipi.

Menschen brauchen Hilfe: Frau aus Marbach bietet Hilfe an

Carmen Mühleisen arbeitet als Coach und nimmt die Situation an, auch weil sie spürt, dass andere Menschen ihre Hilfe brauchen. "Ein Mann mit Handicap fing dann an: Ich habe Hunger, ich habe Durst. Ich muss Pipi, ich muss so dringend Pipi." Die Marbacherin habe dann nach dem universellen Gesetz gehandelt: Energie folgt der Aufmerksamkeit.

Sie versucht also, die Konzentration von den unangenehmen Dingen wegzulenken. "Ich habe ganz laut gesagt: Hat irgendjemand Karten dabei? Und hat irgendwer etwas zum Essen für diesen jungen Mann dabei?" Das habe geholfen, es entsteht ein Gespräch - teils mit ganz persönlichen Erzählungen von anderen Fahrgästen. "Wir haben dann sogar gelacht und gescherzt - aber teilweise mit Händen und Füßen." Denn nicht jeder in der S-Bahn spricht Deutsch oder Englisch.

Älterer Herr nässt sich ein, andere pinkeln aus der Tür

Irgendwann sind draußen Menschen mit Taschenlampen zu sehen. "Ich habe zu den anderen gesagt: Die könnten doch hier reinkommen und uns wenigstens ein Fenster öffnen, damit wir frische Luft haben. Und so witzig: Wie wenn man es ins Universum ruft, sie sind dann wirklich gekommen und haben uns Fenster geöffnet."

Die frische Luft habe gut getan, vor allem weil sich inzwischen zwei Sitze weiter ein älterer Herr eingenässt hatte. "Er hat es nicht mehr halten können. Ich habe nur gedacht: Oh nein, dass muss ihm bestimmt so furchtbar peinlich sein." Niemand darf die S-Bahn verlassen, auch nicht, um sich kurz zu erleichtern. "Dabei waren wir mutterseelenallein auf der Strecke, es kamen auch keine anderen Bahnen." Die Notlösung für einige Männer: aus einer geöffneten Tür hinaus pinkeln.

Evakuierung in eine andere S-Bahn

Weil die S-Bahn nicht mehr fahrtüchtig ist, rollt irgendwann eine neue herbei. "Sie hat ewig hin und her rangiert", erzählt Carmen Mühleisen. Abteil für Abteil wird mithilfe der Feuerwehr in den anderen Zug evakuiert. "Die haben zwischen den beiden Zügen wie so Hängebrücken gebaut." Carmen Mühleisen versucht nach wie vor, den Fokus aufs Positive zu legen. Als eine Frau anfängt zu krakeelen, habe sie diese eindringlich angeschaut, damit diese aufhört und sich niemand anstecken lässt.

"Dann kam die Durchsage, dass die S-Bahn jetzt wieder zurück nach Ludwigsburg fährt und dort Taxis auf uns warten", sagt Carmen Mühleisen. Allerdings weiß niemand, ob die Kosten von der S-Bahn übernommen werden und ob es wirklich genügend Taxis gibt. "Neben mir saß ein junges Mädchen, das gesagt hat: Ich habe gar kein Geld dabei für ein Taxi." Carmen Mühleisen ruft ihren Mann an, bittet ihn, mit dem Auto zur nächsten Haltestelle zu kommen, auch, um noch andere Fahrgäste mit nach Marbach zu nehmen.

Wunsch nach besserer Krisen-Kommunikation

Auch, wenn Carmen Mühleisen das für sie Beste aus der Situation gemacht hat, hätte sie sich eine bessere Kommunikation von Seiten der S-Bahn gewünscht. Alle Informationen seien immer sehr spärlich gewesen, Mitgefühl habe niemand richtig gezeigt. "Man hätte so einfach ein bisschen Humor oder Leichtigkeit reinbringen können. Zwei, drei Sätze, und es wäre schon eine ganz andere Stimmung gewesen." Dafür habe man den erhobenen Zeigefinger ausgepackt: In einer Durchsage habe es geheißen, dass in Social Media entdeckte Videos von den Arbeiten der Einsatzkräfte Bußgelder nach sich ziehen könnten.

"Zuhause habe ich erstmal zu meinem Mann gesagt: Jetzt brauche ich einen Grappa", erzählt Carmen Mühleisen mit einem Lachen. "Normalerweise kommen die Klienten zu mir. Das war jetzt zum ersten Mal, dass ich in einer Situation was machen konnte und die Leute nicht wussten, wer ich bin."

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