Baustellenplanung "völlig außer Kontrolle"

Chaos bei der Bahn: Baustellen in BW ohne rechtzeitige Vorwarnung

Stand

Von Autor/in Frieder Kümmerer

Seit einer Woche leiden Fahrgäste in Stuttgart - mal wieder: Bis Montag halten viele Züge nicht, und das mit kaum Vorwarnung. Der Grund: spontane Baustellen. Ein landesweites Problem.

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Schlechtes Baustellenmanagement der Deutsche Bahn

"Für das Jahr 2025 hat die Bahn in Baden-Württemberg bisher keine einzige Baustelle fristgerecht angekündigt", sagt ein Sprecher des privaten Nahverkehrsunternehmens Arverio auf SWR-Anfrage. Normalerweise gelte für große Maßnahmen sechs Monate, für kleinere Maßnahmen drei Monate Vorlaufzeit. Doch die Bahntochter DB InfraGO scheint überfordert. Das sagt auch der Verband "Die Güterbahnen": "Die Baubetriebsplanung der DB InfraGO in Baden-Württemberg ist zurzeit völlig außer Kontrolle geraten."

Uns sind bisher 22 Maßnahmen und Baustellen für das Jahr 2025 mitgeteilt worden. Keine davon pünktlich.

Auf SWR-Anfrage erklärte die Bahn, dass es durchaus auch pünktliche Ankündigungen von Baustellen gebe. Das zeige etwa die jährliche Sperrung der S-Bahn-Stammstrecke kommenden Sommer - die allerdings die regionalen Verkehrsunternehmen gar nicht betrifft. Tatsächlich ist es laut Betroffenen so: Kurzfristig angesetzte und angekündigte Großbaustellen sind längst Normalität geworden.

Spontane Baustellen: falsche Fahrpläne, überfüllte Züge

In Stuttgart sind die Fahrgäste es inzwischen gewohnt, dass Fahrpläne während Bauphasen eher flexibel zu begreifen sind. Bis Montagfrüh fallen noch ICE- und Regional-Züge aus. Oder aber sie werden um Stuttgart herum geleitet und halten erst in Esslingen. Betroffene Reisende müssen seit einer Woche oft dann auf die verbleibenden, häufig überfüllten S-Bahnen ausweichen, um in die Innenstadt zu kommen. Die Online-Fahrplanauskunft stimmt dabei immer wieder nicht mit den Fahrplänen der Lokführer überein.

Wie konnte es soweit kommen? Als vor rund zwei Jahren die Bahn erstmals kurzfristig mehrmonatige Baustellen und Sperrungen zwischen Stuttgart-Bad Cannstatt und Waiblingen (Rems-Murr-Kreis) angekündigt hatte, war das noch ein handfester Skandal. Es gab Empörung und sogar eine Sitzung im Landesverkehrsausschuss. Doch aus der Ausnahme ist längst die Regel geworden.

Waiblingen/Bad Cannstatt

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Bahnbaustellen: Probleme in ganz Deutschland, aber BW extrem

"Es ist nicht nur Stuttgart", fährt der Sprecher vom Verkehrsunternehmen Arverio fort. "Arverio fährt in Baden-Württemberg und Bayern und überall haben wir das Problem", so der Unternehmenssprecher weiter. Zur aktuellen Baustelle in Stuttgart seien die Verkehrsunternehmen selbst erst Mitte Januar informiert worden. Sprich: Statt sechs Monate Vorlaufzeit hatten die Unternehmen nur einen. Das zieht laut Arverio einen Rattenschwanz nach sich.

Denn es fehlt die Zeit, um Ersatzverkehr zu planen und zu organisieren, neue Schichtpläne für das Personal zu erstellen und die neuen Fahrplaninformationen rechtzeitig an die elektronische Fahrplanauskunft weiterzugeben. Das Chaos war also abzusehen. Das führt laut Arverio auch dazu, dass die Züge nicht mehr planmäßig zur Reinigung und Toiletten-Entsorgung kommen. Daher sind auch viele Zugtoiletten zurzeit außer Betrieb.

Baden-Württemberg ist zurzeit ein absolutes Extrembeispiel.

Doch nicht nur die Fahrgäste, insbesondere Pendlerinnen und Pendler, trifft diese Problematik. Auch der Güterverkehr ist betroffen. Der Interessensverband "Die Güterbahnen" teilte auf SWR-Anfrage mit: "Wir gewinnen den Eindruck, dass die DB InfraGO selbst den Überblick verloren hat. Im Rest von Deutschland ist es besser, aber nicht gut." Das kratze nicht nur am Image, wenn bei Güterzugunternehmen plötzlich Züge ausfielen. Das erschwere auch eine verlässliche Planung. Diese braucht es, damit die Güterzüge auch beladen und nicht teilweise leer fahren müssen.

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Auf SWR-Anfrage spricht die Bahn nicht von einem flächendeckenden oder auch nur baden-württemberg-weiten Problem. Vielmehr liege das Problem vor allem im Bahnknoten Stuttgart und den Bauarbeiten zu Stuttgart 21: "Wir stehen vor der komplexesten Inbetriebnahme eines neuen Eisenbahnknotens der vergangenen Jahrzehnte in Europa." Ab 2026 werde man den Reisenden dafür sukzessive eine neue und leistungsfähigere Infrastruktur anbieten können. Dafür seien die aktuellen Einschränkungen für Fahrgäste leider unvermeidbar.

Erstmals Reisewarnung für Zugfahrten in Stuttgart

Der sogenannte "Qualitätsanwalt" der landeseigenen Nahverkehrs-Gesellschaft Baden-Württemberg, Matthias Lieb, soll eigentlich darum kämpfen, dass sich diese Einschränkungen im Maße halten. Bei den aktuellen Sperrungen in Stuttgart kapitulierte er aber: Erstmals sprach Lieb eine offizielle Reisewarnung für Zugfahrten im Großraum Stuttgart aus. Seine Befürchtung, dass die wenig verbleibenden S-Bahn-Züge und der einzig verbleibende Regionalzug RE1 immer wieder "hoffnungslos überfüllt" sein könnten, hatte sich bestätigt.

Dazu kamen widersprüchliche Informationen in den Online-Fahrplanauskünften und im Zug. Laut Verkehrsunternehmen lag das vermutlich schlicht daran, dass die neuen Fahrplandaten kurzfristig wie auch händisch eingetragen werden mussten. Dabei könnten Fehler passiert sein. Züge sind teils bis zu sechs Minuten früher abgefahren, als im DB Navigator angekündigt.

Warum wurden noch fahrende Züge nicht verlängert?

"Sollte es noch weitere solch kurzfristig (un)geplanten Baustellen geben, könnte es weitere Reisewarnungen geben", sagt Matthias Lieb auf SWR-Anfrage. Das Verkehrsministerium hatte von der Bahn verlangt, beim verbleibenden RE1, der noch als Nahverkehrszug den Stuttgarter Hauptbahnhof erreicht, die Züge zu verlängern. Es sollten drei statt zwei Triebfahrzeuge aneinander gekuppelt werden.

Laut Verkehrsministerium habe die Bahntochter DB InfraGO geantwortet: "Wir haben nicht das Personal, um zu prüfen, ob die Bahnsteiglängen entlang der Strecke ausreichend sind für längere Züge." Laut Verkehrsministerium entsteht so der Eindruck, dass die Interessen der Fahrgäste hinter den Baustellen zurückbleiben.

Bahn schafft Arbeiten nicht in vorgesehenem Zeitraum

Auffällig ist auch, dass die Bahn wohl kaum eine der Baustellen im vorgesehenen Zeitraum abschließen kann. Das ist auch bei der viel diskutierten Riedbahn-Sanierung zwischen Mannheim und Frankfurt zu beobachten. Nach wie vor gibt es Stellwerksausfälle und Weichenstörungen. Die Riedbahn ist laut Experten bisher mitnichten zuverlässiger als vor der Sanierung.

In Stuttgart sind die Probleme ebenfalls gut zu beobachten. Zum Beispiel am Bahnhof Bad Cannstatt: Erst gab es rund drei Monate Einschränkungen im Jahr 2023. Dann wurden im Frühjahr 2024, ausgerechnet zum Frühlingsfest, die Weichen im Bahnhof erneuert. Ende 2024 erneuerte die Bahn schon wieder die Weichen im Bahnhof. Dann gab es im Januar 2025 wieder Sperrungen wegen des Digitalen Knotens Stuttgart. Keinen Monat später die nächste Sperrung aus dem gleichen Grund - das ist die Baustelle, die jetzt am Wochenende enden soll.

Verkehrsminister Hermann bestellt Verantwortliche ein

Kritik hagelt es auch von den wiedergewählten Bundestagsabgeordneten und bahnpolitischen Sprechern der CDU- und Grünenfraktionen. Der Reutlinger CDU-Abgeordnete Michael Donth erklärte, er habe für das schlechte Baustellenmanagement und die unzureichende Kommunikation der Bahn absolut kein Verständnis. Der Nürtinger Grünen-Abgeordnete Matthias Gastel sagte, er werde das chaotische Vorgehen der Bahn der Bundesnetzagentur melden.

Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hatte vergangenes Wochenende angekündigt, alle Verantwortlichen der Bahn zum Gespräch einzuladen, um die Problematik zu erörtern. Noch habe das Gespräch nicht stattgefunden, heißt es aus dem Verkehrsministerium. Aber klar sei: Es handle sich um eine Einbestellung der Verantwortlichen. Nicht nur um einen bloßen Gedankenaustausch.

Hoffen auf Besserung - und eine neue Bundesregierung

Ob solche Gespräche hilfreich seien werden? Auf Bundesebene habe es diese bereits gegeben, sagt der Verband "Die Güterbahnen". "Das hat aber nicht zu grundlegenden Verbesserungen geführt." Die Fahrgäste und Branchenvertreter können also vor allem nur eines: Hoffen, dass es irgendwann besser wird. Oder dass eine neue Bundesregierung durchgreift.

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