Jesper Juul entwickelte das Bild, dass Erwachsene und Kinder und Jugendliche "gleichwürdige" Partnerinnen und Partner sind. Eltern und Kinder auf Augenhöhe – das wirkt auf viele wie ein wagemutiges Experiment. Juul wollte allerdings den Druck herausnehmen, irgendwelche Erziehungserfolge erzielen zu müssen und mehr Gelassenheit in die Familien bringen – und gegenseitigen Respekt: für die Besonderheit, die Gefühle, Gedanken und Reaktionen eines Kindes, aber auch für die Bedürfnisse der Erwachsenen.
Der Familientherapeut Juul wusste sehr wohl, dass es Eltern nicht leichtfällt, eine solche Haltung zu entwickeln. Er wandte sich oft gerade an diejenigen, die bereits nicht mehr weiterwussten: Der dreijährige Sohn ist verzweifelt und aggressiv zu anderen. – Die zwölfjährige Tochter will nach der Trennung nicht zu ihrem Vater kommen. – Zuhause ist ständig "dicke Luft". – Meine Tochter klaut. – Mein Sohn klebt am Bildschirm.
Juuls eigene Kindheit prägte vermutlich seine Empathie für Kinder
Der Psychologe Claus Koch hat die ersten Bücher Jesper Juuls in Deutschland verlegt. Viele Jahre später verfasste er mit ihm seine Autobiografie "Das Kind in mir ist immer da", erschienen 2018. Koch vermutet heute, dass Juuls eigene Kindheit im Dänemark der 1950er-Jahre seine Empathie für die Lebenswelt anderer Kinder erzeugt und geprägt hat: die besitzergreifende Mutter, der ihn abweisende Vater, wie Jesper Juul in eine Art "inneres Exil" ging, oft in den Wald flüchtete und einsam und mit sich alleine war, bis er mit 16 ausbrach.
Jesper Juuls Anfänge in der Familientherapie
Nachdem Juul in Aarhus eine Lehrerausbildung absolviert hatte, arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter. In seiner Autobiografie sagt er dazu: Den auf sich gestellten Müttern zu helfen und mit den sogenannten auffälligen Heranwachsenden einen guten Alltag zu leben, das sei seine eigentliche therapeutische Ausbildung gewesen. Ihm wurde klar, dass er den Kindern und Jugendlichen nur helfen kann, wenn er auch die Eltern einbezieht. Das waren seine Anfänge in der Familientherapie.
1979 gründete der Pädagoge Juul nach dem Konzept des amerikanischen Psychotherapeuten Walter Kempler mit einem Psychiater und einer Professorin für Sozialarbeit das dänische "Kempler Institut", das eine "Ausbildung in Psychotherapie mit Familien" anbot und das Jesper Juul bis 2006 leitete. In die Seminare kamen auch Fachkräfte vom Jugendamt: Sie brachten die Familien mit, die sie betreuten, und arbeiteten dort therapeutisch mit ihnen weiter.
Autorität haben, ohne autoritär zu sein: Ende der Gehorsamskultur
Jesper Juul bewahrte sich eine Art freigeistiges Denken in Erziehungsfragen. Er war ein genauer Beobachter und zugewandter Zuhörer, schöpfte aus seinen jahrzehntelangen Erfahrungen und ließ sich trotzdem jedes Mal neu auf ein Kind und seine Familie ein. Eine Theorie oder Standardtipps rund um die "Gleichwürdigkeit" für alle Familienmitglieder wollte er nicht entwickeln. Er stellte jedoch klar: Die Gehorsamskultur sollte passé sein, Eltern müssten eine Autorität haben, ohne autoritär zu sein. Sie müssten sich bewusst machen, was sie selbst im Leben wollen. Gleichzeitig sollten sie ihre Kinder davor bewahren, dass diese zu sehr im Mittelpunkt stehen und zu viel bestimmen. Oder wie er an anderer Stelle einmal gesagt hat:
Und: Es kann lange dauern und wird vermutlich mühsam sein, dorthin zu gelangen. Niemand hat dafür ein Patentrezept, es hilft nur das Hineinhören in sich selbst: Mütter und Väter, die erst ihre eigenen Werte kennenlernen müssen, um ihren Kindern gerecht zu werden – Töchter und Söhne, die in ihrem Wesen respektiert werden und sich auch orientieren können, wenn die Eltern ihre Werte vorleben.
In Fachkreisen wird Jesper Juuls Erziehungsstil der wertschätzenden Beziehungen meist als einfühlsam, liebevoll-autoritativ und neohumanistisch bezeichnet, beeinflusst von der systemischen Psychotherapie, die Familien stets als ein Geflecht mit ganz eigenen Verstrickungen und Potenzialen betrachtet. Einige Thesen des dänischen Therapeuten sind auch in klinischen Studien wiederzufinden. Auch die frühkindliche Bindungsforschung zum Beispiel hat gezeigt, dass schon kleine Kinder durchaus dazu fähig sind, Beziehungen mitzugestalten.
Kein Patentrezept: Jesper Juul als Begleiter, der Hilfestellung gibt
Vielleicht erwarten Eltern auch zu viel, wenn sie hoffen, dass ihr Kind mithilfe "der richtigen Erziehung" so unbeschadet wie möglich aufwachsen kann. Das sah auch Jesper Juul ganz ähnlich. 2011 wurde er für eine Radiosendung gefragt: Was machen wir damit, dass alle glückliche Kinder haben wollen? Und er antwortete: "Das ist nicht möglich." Die eigene Paarbeziehung zu schätzen und zu pflegen sei das Beste, was man für seine Kinder tun könne, betonte der Therapeut. Oder wie er in seinem Buch "Dein kompetentes Kind" verspricht:
Juul verstand sich als Dienstleister oder als Begleiter, der eine Hilfestellung gibt. Seine letzten Jahre, sagt Claus Koch, habe der Freund sehr schweigsam verbracht. Das war zum einen einer schweren Krankheit geschuldet, aber er wollte wohl auch in dieser letzten Phase nicht mehr viel von sich preisgeben. Der Mann, der das Rauchen, den Wein, das Kochen und das gute Essen geliebt hat, der monatelang unterwegs war und Vorträge in großen Hallen hielt, habe laut Claus im Grunde wie ein Einsiedlerkrebs gelebt. Er war zweimal geschieden und hat auch immer wieder eingeräumt, dass er während der Kindheit seines einzigen Sohnes kein guter Vater für ihn war.
Was Juul selbst angeht, so vermutet Claus, war er in seinem Verhältnis zu anderen Menschen nicht in der Lage, vertrauensvolle Beziehungen wirklich auszuleben. Das ist vielleicht sein eigentliches Vermächtnis. Der Beobachter, Beziehungsstifter und Erziehungsgefährte Jesper Juul hatte selbst kein geradliniges Leben.
SWR 2020 / 2023