Wie Tony Rinaudo zum Waldmacher wurde
Als Tony Rinaudo Anfang der 1980er-Jahre erstmals in den Süden Nigers kam, entdeckte er, dass von Bäumen entblößte Ackerflächen dort biologisch keineswegs tot waren. Vielmehr hatten im Untergrund zahllose Baumwurzeln, Stümpfe und Samen überlebt. Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alte Waldreste, die regelmäßig zur Regenzeit neue Triebe entwickeln. Diese Triebe wurden bis dahin allerdings genauso regelmäßig von Ziegen abgefressen oder beim Abbrennen der Felder vernichtet. Rinaudo entwickelte eine Gegenmaßnahme. Er stellte fest:
- Um das Land wieder zu begrünen, müssen keine neuen Bäume gepflanzt werden - was aufwändig und teuer ist. Vielmehr lassen sich die Wurzeln und Baumreste im Untergrund nutzen.
- Die Bauern müssen dabei lediglich einige Baumtriebe erhalten, sie vor Ziegen und Feuer schützen und sie regelmäßig beschneiden. Das ist neben der Feldarbeit möglich.
- Dann entstehen nach drei, vier Jahren neue Bäume, die bestens an das lokale Klima und die lokalen Böden angepasst sind. Diese Technik, im Untergrund bereits vorhandene Bäume zu regenerieren, ist auch viel kostengünstiger als neue Setzlinge zu pflanzen.
Der Vorteil: Bäume schützen vor Erosion, Hitze und Sturm
Bäume liefern den Bauern der Sahelzone seit Menschengedenken Feuerholz, Blätter und Früchte als Nahrungs-, Futter- und Heilmittel. Die Blätter vieler Baumarten düngen, weil sie Stickstoff binden, die Äcker; ihre Wurzeln schützen die sandigen Böden vor Erosion. Die Bäume spenden Schatten und brechen den Wind; sie schützen die Hirse- und Sorghum-Äcker der Bauern vor Hitze und Sturm.
Arbeitserleichterung vor allem auch für Frauen
Zu den größten Nutznießern gehören Frauen: In Niger ist Brennholz vielerorts so knapp, dass Frauen jeden zweiten Tag bis zu vier Stunden gehen müssen, um ein Bündel Brennholz zu sammeln; und manche dieser Frauen tragen dann so gewaltige Lasten auf dem Kopf, dass sie ihre Gesundheit ruinieren. Außerdem hält die Holzschlepperei Frauen davon ab, andere produktive Dinge zu tun – Gemüse auf dem Markt zu verkaufen etwa, den Garten in Schuss zu halten oder sich um die Kinder zu kümmern. Das Leben solcher Frauen besteht oft nur aus mühsamer Schufterei. Frauen, auf deren Felder jetzt Bäume wachsen, haben ein deutlich höheres Einkommen als andere. Und sie sind auch weniger den Gefahren auf der Straße ausgesetzt – sei es durch Tiere oder leider auch durch Menschen verursachten Gefahren.
Beispiel Niger
Das Sahelland Niger ist ein gutes Beispiel für den Erfolg. Es ist fast viermal so groß wie Deutschland und besteht zu zwei Dritteln aus Wüste. Mehr als 20 Millionen Menschen leben hier; seit 1974 hat sich die Bevölkerung vervierfacht. Jede Frau bekommt im Schnitt sechs Kinder. Alles verfügbare Ackerland ist längst gerodet und mit Hirse oder Sorghum bebaut. Doch die Ernten auf den sandigen, nährstoffarmen Böden sind karg bei gerade mal 500 Millimetern Regen im Jahr und acht Monaten Trockenzeit. Der Klimawandel, der der Sahelzone noch höhere Temperaturen und schwankende Regenmengen bringt, verschärft die Situation weiter.
Hinzu kam eine verfehlte Agrarpolitik. Bauern Niger holzten über Jahrzehnte die Bäume auf ihren Feldern ab, weil Agrarberater ihnen das empfahlen. Deshalb scheiterten Versuche, die Ausbreitung der Wüste im Süden Nigers zu stoppen - bis Tony Rinaudo kam und entdeckte, dass Wurzeln, Stümpfe und Samen gefällter Bäume im kargen Sandboden weiterleben.
Er zeigte Bauern, dass Bäume ihre Felder ertragreicher machen, und half ihnen, Millionen Triebe zu robusten Nutzbäumen heranzuziehen. Heute stehen im Süden Nigers 280 Millionen Bäume – 40 mal mehr wie vor 30 Jahren. Das Mikroklima hat sich verbessert, die Landwirtschaft ist ertragreicher geworden. Und Rinaudos Konzept der Baumvermehrung ist in ganz Afrika auf dem Vormarsch.
Ertragreiche Ernten gibt es nur mit Bäumen
Niger wird seine Ernteerträge bis 2050 verdoppeln müssen, um die dann 45 Millionen Menschen zu ernähren. Das sei durchaus möglich, sagt Tony Rinaudo, der heute für das Hilfswerk World Vision arbeitet. Nahrungsmittelproduktion in der Sahelzone funktioniere nur mithilfe von Bäumen, sagt Rinaudo.
Wiederaufforstung zum Nulltarif
Seine Technik war in den Grundzügen nicht neu. Sie wird seit Jahrhunderten weltweit eingesetzt, um abgeholzte Flächen wieder aufzuforsten. Neu war die beispiellose Dynamik, die Tony Rinaudo in Gang setzte. Er packte die Bauern bei ihrem Eigeninteresse; ihrem Wunsch, die Erträge ihrer Felder zu erhöhen, und motivierte sie so, Bäume und Wälder zu regenerieren. Wiederaufforstung, die die Bauern praktisch kein Geld kostete, sondern nur relativ wenig leicht zu erlernende Arbeit. Mit seiner Idee stieß der Australier zunächst allerdings auf wenig Gegenliebe bei den selbstbewussten Haussa-Bauern. Fast alle glaubten, dass Bäume ihre Böden unfruchtbar machten; dass sie Schlangen und Vögel, die die Saaten fressen, anlockten.
Hungersnot brachte die Wende
Rinaudo nutzte eine große Hungersnot 1984, um skeptische Bauern zu überzeugen: Im Rahmen eines Nahrung für Arbeit-Programms mussten die Bauern auf jedem Hektar ihres Ackerlands 40 Bäume heranziehen. Und tatsächlich wuchsen im Laufe der nächsten sieben, acht Jahre ihre Ernteerträge; und die Bauern hatten bald Nebeneinkünfte aus dem Verkauf von Früchten, Bau- und Brennholz.
Nach den zähen Anfängen in Maradi verbreitete sich die neue Methode der Wiederaufforstung immer schneller in Niger. Inzwischen haben Bauern in Niger fast 300 Millionen Bäume aufgezogen; auf mehr als der Hälfte des Ackerlandes wird die neue Methode angewandt. Satellitenaufnahmen legen ein beredtes Zeugnis davon ab. Vielerorts hat sich die Baumdichte mehr als verzwanzigfacht – mit erheblichen Auswirkungen auf das Mikroklima und damit die Lebensqualität der Bauern und ihrer Familien.
Ergebnis: Stabile Nahrungsproduktion trotz Bevölkerungswachstums
Die Wiederaufforstung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Niger seine Pro-Kopf-Produktion von Hirse und Sorghum, die 90 Prozent des Nahrungsmittelverbrauchs im Lande decken, seit 1980 stabil halten konnte – trotz des hohen Bevölkerungswachstums.
Die Idee verbreitet sich in der Welt
Diese Ideen verbreiten sich zusehends in Afrika und darüber hinaus. World Vision fördert die Technik in 24 Ländern weltweit – vor allem auch in Äthiopien, das zuletzt auf nur noch vier Prozent seiner Fläche mit Bäumen bestanden war. Inzwischen betreiben ganze Kommunen in Äthiopien, straff organisiert, Wiederaufforstung. Und einige dieser Kommunen verdienen mittlerweile bares Geld mit international gehandelten Zertifikaten für eingesparte Kohlendioxid-Emissionen.
Kampf gegen Hunger und Umweltzerstörung
Immer mehr Regierungen, Hilfsorganisationen, Geldgeber und Dorfgemeinschaften engagieren sich heute für die von Bauern betriebene Wiederaufforstung. Wir sehen da ein quasi exponentielles Wachstum. In Afrika, zum Beispiel, gibt es seit kurzem die sogenannte AFR100-Initiative, die bis 2030 hundert Millionen Hektar degradierten Landes regenerieren will. Mehr als 20 afrikanische Länder haben sich schon verpflichtet, insgesamt 80 Millionen Hektar zu regenerieren. Und diese Länder werden von Fachleuten unterstützt: von uns, vom renommierten World Agroforestry Center, vom World Resources Institute. Da sehe ich Anzeichen für eine wunderbare Zukunft und ein großes Potenzial, die Entwaldung Afrikas umzukehren und große Teile des Kontinents wieder zu begrünen.
35 Jahre nach seiner Ankunft im Süden Nigers sieht der stets bescheiden auftretende Waldmacher gute Chancen, dass seine Vision Wirklichkeit werden könnte: Die geniale Verbindung einer verblüffend einfachen Technik der Wiederaufforstung mit bäuerlichem Eigeninteresse könnte zu einer gewaltigen Triebkraft avancieren – im Kampf gegen Hunger, Umweltzerstörung und Klimawandel weltweit.
Produktion 2018