Der Roman beginnt als Spurensuche einer Familiengeschichte
Wie das oft so ist. Die Eltern werden alt, und man merkt: Wenn man noch etwas von früher erfahren möchte, dann muss man sie jetzt fragen. Nächstes oder übernächstes Jahr könnte es bereits zu spät sein.
So denkt auch der in den USA lebende Harry im neuen Roman von Stephan Thome. 2016 ist er zusammen mit seinem Sohn Paul auf Heimatbesuch in Taiwan. Harry möchte mehr über seine Mutter wissen, die in der japanischen Kolonialzeit aufwuchs.
Die währte immerhin fünfzig Jahre, prägte Taiwan tief und endete erst mit der Niederlage der Japaner im Zweiten Weltkrieg. Anschließend strömten – auf der Flucht vor Mao – rund zwei Millionen Chinesen auf die Insel und sinisierten sie brachial.
Zeitgeschichte und erzählerische Phantasie ergänzen einander
Über diese Zeit des kulturellen Umbruchs möchte Harry einen Roman schreiben, was womöglich bereits der vorliegende ist, wie sich später herausstellt: eine Geschichte, die historisch penibel recherchiert ist, die in ihrer Erklärlust passagenweise aber auch etwas pädagogisch wirkt und die mit viel erzählerischer Phantasie angereichert wurde.
Denn so richtig auskunftsfreudig ist die Mutter gar nicht, die als Kind Umeko hieß, Pflaumenkind. Der Verlust der japanischen Sprache und auch ihres japanischen Namens war für sie – wie für viele Taiwaner – durchaus traumatisch.
„Als ich damals Chinesisch lernen musste“, sagt sie jetzt und schaut wieder zum Fernseher, „war ich genauso alt wie Paul heute.“ „Ich weiß“, antwortete er, ohne seine Überraschung zu zeigen. Obwohl es über die Lees aus Keelung genug zu berichten gäbe, spricht seine Mutter fast nie von früher. Als Kind wurde ihm erzählt, ihr ältester Onkel sei in seinem Ort der erste Besitzer eines elektrischen Kühlschranks gewesen. Die Kohlemine in Ruifang hatte in der Kolonialzeit viel Geld abgeworfen, aber als die Festländer die Insel übernahmen, änderten sich die Zeiten. Harrys Großvater kam noch relativ glimpflich davon, er verlor nur seinen Job in der Goldmine. „Das muss schwer gewesen sein“, sagt er vorsichtig. Mit seiner Mutter über die Vergangenheit zu sprechen ist wie ein scheues Tier zu füttern. Eine falsche Bewegung und…
Die Re-Sinisierung der Insel erlebten die meisten Taiwaner nicht als Befreiung, sondern als neuerlichen Identitätsverlust. Stephan Thome beschreibt sehr realitätsgesättigt, manchmal bloß leider ein wenig im Duktus eines in die Jahre gekommenen Mädchenromans, wie sich der Alltag für Umeko und ihre Familie ändert.
Ein inselweiter Aufstand gegen die chinesischen Besatzer zog 1947 ein entsetzliches Blutbad nach sich, dem bis heute gedacht wird. Danach stand die Insel für knapp vier Jahrzehnte unter Kriegsrecht.
Literatur, die in dieser bleiernen Zeit geschrieben wurde, kann man in Thilo Diefenbachs hervorragender Anthologie mit dem schlichten Titel „Kriegsrecht“ nachlesen. Und auch die in Deutschland lebende Taiwanerin Jade Chen schrieb vor einigen Jahren mit „Die Insel der Göttin“ einen sehr erhellenden Roman über ihre Familiengeschichte, in der auch der sinojapanische Konflikt eine große Rolle spielt.
Bei genauerer Betrachtung ähnelt Stephan Thomes Roman dem von Jade Chen sogar ein wenig. Auch er deckt in „Pflaumenregen“ das ganze Sozialspektrum ab, das die taiwanische Gesellschaft zu bieten hat. Wobei sich aber die Figuren, die aus China stammen oder aktuell in China arbeiten, anders als bei Chen mit Nebenrollen zufriedengeben müssen.
Thome zeigt Taiwans historische Eigenständigkeit
Thome geht es zwar nicht darum, Taiwan zu einer japanischen Insel umzudeuten. Doch schon in seinem Vorwort zum Roman votiert er deutlich für die taiwanische Unabhängigkeit von China und zeigt auf den folgenden 500 Seiten, dass die Insel sehr viel mehr Historie hat als nur eine chinesische.
Besonders kämpferisch ist Umekos Bruder Keiji, der in den entscheidenden 40er Jahren politisch aktiv ist – und dafür später auch hart bestraft wird.
Seit alle japanischen Publikationen verboten waren, las er entweder westliche Autoren in chinesischer Übersetzung, oder er suchte nach Titeln von drüben, die in der Kolonialzeit nicht hatten erscheinen dürfen. Im Lesekreis der Kōtōgakkō wollte er demnächst über die Frage sprechen, ob Taiwans Bestimmung darin bestand, die jeweils fortschrittlichsten Elemente von chinesischer und japanischer Kultur zu verbinden. Leider fehlte ihm noch ein konkretes Beispiel, er fand lediglich das Wort >Synthese< attraktiv und stimmte Herrn Wu zu, der das Verbot der japanischen Sprache mit der mutwilligen Amputation eines gesunden Körperteils verglichen hatte.
So dicht ist Stephan Thomes Roman fast durchgängig. Der promovierte Sinologe kennt die Historie aus dem Effeff, er hat die Filme jener Jahre gesehen, die wichtigsten Bücher gelesen, und er arbeitet nebenher auch noch eine kleine Kulturgeschichte der taiwanischen Baseball-Begeisterung ein. Natürlich hat er alle Orte besucht, die er lebhaft beschreibt, und kennt die tropischen Wetterlagen genau, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Roman spielen.
Vom Autor gibt es auch eine Einführung in das Land
Begleitend dazu kann man übrigens Thomes soeben im Piper-Verlag erschienene „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ lesen: eine persönlich gehaltene, kluge und zugleich bunt-fröhliche Taiwan-Einführung, in der vieles wiederkehrt, was man schon in „Pflaumenregen“ gelesen und gelernt hat.
Ein Roman, der viel Wissen vermittelt
Viel um die Ecke denken braucht man bei der Romanlektüre nicht, und man muss auch nicht besonders sensibel für womöglich ungesagt Mitschwingendes sein. Alles, was der Text sagen will, formuliert er deutlich aus.
Vielleicht wurde „Pflaumenregen“ – anders als frühere Romane von Stephan Thome – auch darum nicht für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert. Das wäre dann eine durchaus richtige Entscheidung, denn sein sauber konstruierter Roman hat, auch wenn seine Figuren nicht alles preisgeben, keine Geheimnisse. Dennoch man erlebt viel bei der Lektüre. Und man lernt auch eine Menge. Stephan Thome lesen macht Spaß, und es macht schlau.