SWR Aktuell: Herr Sell, Sie haben vor zehn Jahren, kurz bevor der Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung ab einem Jahr in Kraft getreten ist, in einem Interview gesagt: "Das Ding wird vor die Wand fahren." Sehen Sie Ihre Prognose heute bestätigt?
Prof. Stefan Sell: Ich sehe die Prognose auf der einen Seite nicht bestätigt, weil wir tatsächlich nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz - gerade in Westdeutschland - einen massiven Sprung nach oben gemacht haben. Vor allem was die Kita-Betreuung der Kinder unter drei Jahre angeht.
Diese sehr pessimistische Prognose resultierte aus der damaligen Situation, dass viele Kommunen, die ja die Verantwortung haben, diesen Rechtsanspruch auch umzusetzen, bis zuletzt darauf gesetzt oder gehofft hatten, dass dieser Rechtsanspruch der Eltern nicht kommt. Und damals war es in der ersten Zeit nach Einführung des Rechtsanspruchs tatsächlich sehr, sehr schwer, die vorhandenen Bedarfe zu decken.
Wir haben mittlerweile auch in den westdeutschen Bundesländern - auch in Rheinland-Pfalz - ein Drittel aller Kinder unter drei Jahre, die in einer Kita oder in der Kindertagespflege versorgt werden. Und das ist eine gewaltige Steigerung im Vergleich zu der Situation von vor zehn Jahren. Insofern können wir sagen, wenn wir auf die letzten zehn Jahre zurückschauen, dann muss man auf der einen Seite von einem Erfolgsmodell Rechtsanspruch sprechen, ohne Frage.
Aber ich muss auch eine Menge Wasser in den Wein gießen. Denn wenn man mit betroffenen Eltern spricht, aber vor allem mit den Fachkräften in den Einrichtungen, dann werden die zumindest teilweise die damalige Prognose 'Wir fahren gegen die Wand' bestätigen. Gerade in den letzten zwei, drei Jahren sind die Einrichtungen nicht nur konfrontiert gewesen mit der Sondersituation der Corona-Pandemie, sondern auch mit einem eklatanten Fachkräftemangel. Freie Stellen, die da sind, können gar nicht besetzt werden.
SWR Aktuell: 2013 haben Sie selbst von bis zu 230.000 fehlenden Betreuungsplätzen gesprochen. Laut der Bertelsmann Stiftung sind es derzeit rund 384.000 in Deutschland. Allein 26.000 Plätze sollen aktuell in Rheinland-Pfalz fehlen, trotz eines Rechtsanspruchs. Wie sind diese Zahlen und diese Entwicklung zu erklären?
Sell: Der erste Grund ist darin zu sehen, dass damals ganz wenige Kinder unter drei Jahren in Kitas betreut wurden. Also wir reden hier über Westdeutschland und Rheinland-Pfalz. Und die damaligen Fehlbedarfs-Berechnungen bezogen sich auf die Annahme, dass etwa 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Betreuungsbedarf haben. Eltern, die vor 10, 15 Jahren vielleicht nicht auf die Idee gekommen wären, einen Kita-Platz für ein zweijähriges Kind zu suchen, bekommen in ihrem Umfeld mit, dass das immer normaler wird. Das heißt, das neue zusätzliche Angebot generiert eine wachsende Nachfrage, die nicht gedeckt werden kann.
Und dann haben wir die Situation, die Sie auch unbedingt berücksichtigen müssen: Die Lebensverhältnisse vieler Familien mit jungen Kindern haben sich massiv verändert. Der starke Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit, vor allem der Mütter mit kleinen Kindern, geht eindeutig zurück auf die Zurverfügungstellung von Kita-Plätzen. Und viele Millionen Familien in Deutschland sind mittlerweile angewiesen darauf, dass beide Elternteile arbeiten. Das erklärt, warum diese Zahlen leider immer größer werden.
SWR Aktuell: Wie lässt sich diese Entwicklung stoppen, dass Angebot und Nachfrage so auseinander driften? Brauchen wir in Deutschland ein großes bundesweites Programm für mehr Kita-Plätze, damit die Kosten nicht an den Kommunen hängen bleiben?
Sell: Wir wissen aus unzähligen Studien und Berechnungen, wie groß der volkswirtschaftliche Nutzen der Kindertagesbetreuung ist. Sie haben für jeden Euro, den sie in eine Kita investieren, in die Erzieherinnen, in die Räume, volkswirtschaftlich einen Gegenwert von mindestens zwei Euro bei sehr guter Qualität und bei schlechterer Qualität sogar drei bis vier Euro, die sie sozusagen aus diesem einen investierten Euro herausziehen können. Da würde jetzt jeder sagen das ist doch eine tolle Kosten-Nutzen-Relation.
Und jetzt kommen wir zu einem strukturellen Kernproblem: Wir haben eine völlig perverse Verteilung der Kosten und der Nutzen. Hauptkostenträger bei den Kitas sind die Kommunen und die Bundesländer. Der Bund ist seit einigen Jahren beteiligt, indem er Zuschüsse beim Ausbau der Kitas gibt, aber nur in einem sehr überschaubaren Umfang. Wenn Sie jetzt aber schauen, wo fallen die Nutzen an, dann werden Sie sehen, dass der Großteil des Nutzens auf der Bundesebene und auf der Ebene der Sozialversicherung stattfindet.
SWR Aktuell: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Sell: Stellen Sie sich eine Kita-Gruppe vor mit 20 Kindern und zwei Erzieherinnen, die diese Kinder zum Beispiel ganztags betreuen. Von den 20 Müttern gehen beispielsweise zehn Mütter überhaupt jetzt erst einmal irgendeiner Erwerbsarbeit nach, und sei es 20 Stunden in der Woche. Die zahlen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Die fallen aber vor allem auf der Ebene des Bundes und der Sozialversicherung an.
Und deswegen verstehe ich auch jeden Kämmerer in einer Kommune, der mir sagt, du hast zwar recht, dass unsere Kitas enormen volkswirtschaftlichen Nutzen produzieren. Aber sorry, nur zwei Prozent dieses Nutzens taucht bei mir auf der kommunalen Ebene auf. Und solange sie dieses hemmende Finanzierungssystem nicht endlich in einem Kraftakt auflösen, werden wir damit leben müssen, dass die Kommunen das Gegenteil von großem Anreiz oder Interesse haben, sehr, sehr kostenintensive Kitas auszubauen.
80 Prozent der Kosten bei Kitas sind Personalkosten. Das sind Millionen, die dort jeden Tag allein in Rheinland-Pfalz gezahlt werden müssen. Aber selbst wenn es uns gelingen würde, die Politik endlich zu überzeugen, ein vernünftiges Finanzierungssystem zu schaffen, haben wir die Problematik, dass uns zurzeit und auf absehbare Zeit die Fachkräfte fehlen werden.
SWR Aktuell: Trotz dieser mangelhaften Personalausstattung sollen die Erzieherinnen in Rheinland-Pfalz nun auch die Sprachförderung noch nebenbei im Regelbetrieb erledigen. Die so genannten Sprach-Kitas gibt es seit einem Monat nicht mehr, weil die Finanzierung durch den Bund dafür ausgelaufen ist. Wie passt das zusammen?
Sell: Rheinland-Pfalz gehört zu den wenigen Bundesländern, die gesagt haben: Nö, dafür stellen wir keine Landesmittel zur Verfügung, sondern man kommt auf die wahnsinnig innovative Idee, auch noch mit der Aussage hausieren zu gehen: Das ist kein Problem, weil das hat nur zehn Prozent der Kitas betroffen, denen jetzt die Stellen wegfallen. Und wir sind jetzt sogar noch viel moderner, weil wir von jeder Kita verlangen, dass sie Sprachförderkräfte benennen.
Und die sollen dann in der Kita dafür sorgen, dass die Sprachförderung im Regelbetrieb gemacht wird. Ja, wozu hat man denn dieses Programm aufgelegt? Weil das im Regelbetrieb überhaupt gar nicht leistbar war. Und so schafft man sozusagen eine Oberfläche von Pressemeldungen, von Behauptungen, die aber leider mit der Realität in den meisten Einrichtungen nicht viel zu tun hat.
SWR Aktuell: Die Kita-Fachkräfteverbände - auch der in Rheinland-Pfalz - sagen: Kitas sind in einer modernen Gesellschaft wie unserer systemrelevant, weil sie Eltern ein gleichberechtigtes Berufsleben ermöglichen. Welchen Preis zahlt unsere Gesellschaft denn dafür, dass das für viele Eltern bis heute leider nicht gilt, weil es für ihre Kinder keine Betreuungsplätze gibt?
Sell: Also die gesellschaftlichen Folgekosten von zu wenig Kita-Betreuung oder sogar vielleicht in Zukunft noch weniger werdender Kita-Betreuung, weil Einrichtungen aufgeben müssen, weil Personal fehlt, die können sie gar nicht überschätzen. Wenn dieses System zusammenbricht oder stark eingeschränkt wird, dann stehen innerhalb weniger Tage und Wochen ganze Branchen letztendlich vor dem Aus, wo wir extrem hohe Frauenanteile haben.
Und das ist nicht nur im Pflegebereich so. In der Gastronomie, in vielen anderen Berufsbereichen ist das so. Einzelhandel und so weiter. Also das wäre fatal. Aber wir haben auch massiv negative gesellschaftliche Folgekosten bei den Kindern. Denn unsere Studien zeigen eindeutig, dass die Kinder am meisten profitieren von einer möglichst frühzeitigen und dann länger andauernden Kita-Betreuung, insbesondere Kinder aus sogenannten bildungsfernen Haushalten. Also das ist, glaube ich jetzt der Punkt, wo man sieht, dass die Kitas wirklich systemrelevante Infrastruktur geworden sind.
SWR Aktuell: In Rheinland-Pfalz hat die Meldung hohe Wellen geschlagen, dass an der Gräfenau Grundschule in Ludwigshafen viele Kinder die erste Klasse wiederholen müssen - vor allem wegen fehlender Sprachkenntnisse. Erklärt wird das unter anderem damit, dass viele der Kinder vorher keine Kita besucht und einen Migrationshintergrund haben. Gibt es hier die größten Betreuungslücken?
Sell: Ja, wir können zum Beispiel nachweisen, dass die höchste Inanspruchnahme von ganztägiger Kita-Betreuung und von sehr frühzeitiger Kita-Betreuung, also schon bei Unter-Dreijährigen, dass die mit dem Bildungs- und Einkommensgrad steigt. Also: Je höher der Bildungsabschluss, je höher das Einkommen, desto intensiver ist auch die Inanspruchnahme. Das ist aber nicht so zu verstehen, dass diejenigen, die da unten sind, dass die keinen Bock haben, eine Kita in Anspruch zu nehmen, sondern die kriegen schlichtweg keine Kita. In ihren Gegenden ist das Angebot schlichtweg zu niedrig.
Die finanzstärkeren Familien besorgen sich über ihre Netzwerke entsprechende Plätze. Das heißt, das tatsächlich vorhandene Gefälle kann man nur ausgleichen, wenn man vor Ort das Angebot an guten Kita-Plätzen drastisch erhöht. Man darf nicht vergessen: Bei Kindern im Alter unter sechs Jahren haben sie die größten Möglichkeiten, die Kinder im positiven Sinne zu formen, zu gestalten, ihnen Anreize zu geben, die sie in ihrer eigenen Familie nicht bekommen können, aufgrund deren Lebenslage.
SWR Aktuell: Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie groß sind ihre Hoffnungen oder Erwartungen, dass es zum "20. Jahrestag Kita-Rechtsanspruch" eine flächendeckende Versorgung und keine Wartelisten mehr geben wird?
Sell: Also ich wage jetzt keine Prognose für die nächsten zehn Jahre. Sollten wir einen Systemwechsel bekommen, also eine fundamentale Veränderung der Finanzierung und ein Begreifen, was für ein Rohdiamant der Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung darstellt, dann würde ich Hoffnung haben. Aber ich sehe das derzeit nicht.
Ich glaube, wir müssen auch den Bürgern an der einen oder anderen Stelle sagen, und das ist in Bereichen wie der Pflege genauso, dass wir eben keine Vollversorgung gewährleisten können. Und dann auch noch ohne Beiträge der Eltern. Sondern ich glaube, dass aus der Not des Mangels heraus tatsächlich Einschränkungen vorgenommen werden in den nächsten Jahren. Beispielsweise, dass die sehr starke Ausdehnung der Öffnungszeiten der Einrichtungen, dass die teilweise wieder zurückgefahren wird, obwohl wir eigentlich das Gegenteil bräuchten.
Nur ein Beispiel: Über 40 Prozent der Erzieherinnen und Erzieher in Rheinland-Pfalz in den Kitas sind deutlich über 50 Jahre. Die gehören zu den Babyboomern, die in den nächsten 10, 15 Jahren den Beruf altersbedingt verlassen. Allein die zu ersetzen, wird bei dem jetzigen Ausbildungszahlen schwer zu erreichen sein.
Das Interview führte Dirk Rodenkirch