Neurobiologe plädiert für bewussten Medienentzug

Weniger Smartphone, mehr Raum im Kopf

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Veit Berthold
Veit Berthold
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SWR1

Wir haben es den ganzen Tag in der Hand: das Smartphone. Warum das eine Reizüberflutung fürs Gehirn ist und wie wir zu neuen Gewohnheiten finden, erklärt Neurobiologe Martin Korte.

Belohnungssystem im Gehirn wird beim Konsumieren aktiviert

SWR1: Warum fällt uns das denn so schwer nichts zu tun?

Martin Korte: Weil wir als Lebewesen, die überleben möchten, immer auch darauf angewiesen sind, dass wir Umweltsignale verarbeiten, Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und entsprechend immer auf alles achten, was uns umgibt.

Jetzt ist das mittlerweile etwas entartet, weil diese Achtung der Umwelt erfahrenden Dinge sich auf einen kleinen Bildschirm bezieht, nämlich auf das Smartphone. Man beschäftigt sich ständig damit und versucht das Reiz-Level, an das man sich gewöhnt hat und auf das man sich selbst konditioniert hat, über diese Medien zu erreichen.

Frau mit blonden, langen Haaren und einer Brille schaut auf ihr Smartphone trägt dabei Airpods
Die heutigen Jugendlichen haben laut Neurobiologe Martin Korte nicht nur das Smartphone, sondern auch die Stecker im Ohr, mit denen sie Musikhören und darüber versuchen einen konstant hohen Stimulus-Input zu bekommen.

SWR1: Können wir denn überhaupt noch ohne Smartphone sein oder bekommen wir bereits Entzugserscheinungen, wenn wir die Geräte mal für ein paar Stunden nicht nutzen?

Korte: In jedem Fall zeigt es, wie stark man sich daran gewöhnt hat. Dass wir nicht mehr ohne sein können, das glaube ich nicht. Es ist nur so, dass uns das ungewohnt vorkommt und das Gehirn liebt Gewohnheiten, es möchte die Dinge immer genauso machen, wie wir sie erlebt haben und wo wir auch Belohnungen bekommen haben.

Und diese kleinen Geräte, diese Smartphones sind ja voller kleiner Belohnungen für Dinge, die man schnell nachschauen kann, für die ganzen Likes, die man kriegt, für die ganzen sozialen Nachrichten, die man austauschen kann. Und das ist, was einem in dem Moment fehlt.

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Alte Gewohnheiten durch neue ersetzen

Korte: Da muss man wieder lernen, auch mal einen kurzen Moment der Langeweile auszuhalten. Man wird dann auch ganz schnell merken, auf was für tolle Ideen man wieder kommt, wie entspannt das sein kann. (...) Man kann sich tatsächlich mal kurz auf das konzentrieren, was man macht. Dafür muss man sich den Raum schaffen, um sich sowas zu ermöglichen. Da kann auch tatsächlich mal ein Flug eine gute Idee sein. Man muss bei diesen ganzen Trends, die gerade gemacht werden, nur aufpassen, dass alles nicht funktioniert, wenn man sich das einfach nur für einen Moment vornimmt.

Korte: Gewohnheiten ändert man nur, wenn man die Gewohnheiten, die man nicht mehr verfolgen möchte, durch neue ersetzt. Man muss sich überlegen, wie man sein Verhalten langfristig ändern möchte und nicht nur, wie man das für zwei oder drei Stunden kurzfristig ändern möchte, denn das bewirkt gar nichts.

Medienentzug für mehr Kreativität

SWR1: Was bringt uns der bewusste Entzug von Medien und von Reizen?

Korte: Wir schalten dann um in so einen sogenannten Tagtraum-Modus und der ermöglicht es dem Gehirn, neue Assoziationen zu formen, die Ausrichtung des Denkens zu ändern und das macht uns nachweislich langfristig kreativer.

Wenn die Reize von außen nicht mehr kommen, sucht das Gehirn nach Lösungen zu Problemen, über die man länger nicht nachgedacht hat oder bislang noch keine Lösung finden konnte. Man denkt neu und anders über die Dinge nach – das ist die große Chance, die der bewusste Reizentzug birgt.

SWR1: Also mit anderen Worten, öfter mal bewusst abschalten, um neu aufzutanken.

Korte: Ganz genau und ab und zu muss man einfach auch mal die Barriere zwischen sich und den Geräten erhöhen, das Gerät beispielsweise weglegen oder ausschalten. Damit entkommt man dem Reflex, es einfach immer aus Gewohnheit in die Hand zu nehmen.

Das Gespräch führte SWR1 Moderator Veit Berthold.

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