Sport | Rhythmische Sportgymnastik

Sportmomente 2023: Darja Varfolomeev schreibt in Valencia Geschichte

Stand
Autor/in
Regina Saur

Die damals erst 16-jährige Sportgymnastin Darja Varfolomeev holt bei der WM im Sommer fünf Goldmedaillen. Für SWR-Sport-Redakteurin Regina Saur ist es der Sportmoment 2023.

Diese 90 Sekunden im vollbesetzten Kongresszentrum in Valencia sorgen auch vier Monate später bei mir noch für Gänsehaut. Es ist die letzte Übung von Darja Varfolomeev bei den Gymnastik-Weltmeisterschaften. Vier Goldmedaillen an allen vier Handgeräten (Reifen, Ball, Keulen, Band) hat die 16-Jährige schon. Jetzt geht es um den für sie wichtigsten WM-Titel im Mehrkampffinale. Nach drei von vier Durchgängen liegt die Schülerin vom TSV Schmiden auf Rang zwei.

Sie kommt auf die 16x16 Meter große Bodenfläche lächelnd. Ich kann es nicht fassen, dass sie offenbar gar keine Nervosität verspürt. Das spanische Publikum feuert Varfolomeev nochmals frenetisch an. Eigentlich würde ich jetzt gerne jede Sekunde von dieser alles entscheidenden Ballübung anschauen, aber ich habe mit der Familie von Darja vereinbart, dass ich sie während der letzten Übung mit der Kamera filmen darf.

Deshalb drehe ich mich um und sitze mit dem Rücken zur Wettkampffläche. Direkt hinter mir sitzen Mama, Papa, Oma und Opa Varfolomeev. Bei Mama Tatjana ist jeder Muskel im Körper angespannt. Sie war selbst eine Rhythmische Sportgymnastin, musste aber als Teenager aus gesundheitlichen Gründen die Karriere beenden. Der deutsche Opa sitzt ganz links, einigermaßen entspannt. Er wohnt in Aschaffenburg und ist dafür verantwortlich, dass Darja Varfolomeev von Geburt an auch einen deutschen Pass besitzt.

Die Familie zittert mit

Jetzt steht seine Enkelin da mit dem Ball in der Hand und strebt nach ihrer unglaublichen fünften Goldmedaille bei diesen Weltmeisterschaften. Wir alle wissen, es ist ein historischer Moment. Noch nie hat eine deutsche Gymnastin alle möglichen Einzel-Entscheidungen bei einer Weltmeisterschaft gewonnen. Jahrzehntelang spielten die deutschen Gymnastinnen bei der internationalen Medaillenvergabe keine Rolle.

Die Musik beginnt, wir halten die Luft an. Ich kann nur an den Gesichtern der Familie ablesen, wie es für Darja läuft. Mama Tatjana lebt die Übung mit. Jeder Sprung, jeder Wurf ist in ihren Augen erkennbar. Die Oma krallt die Daumen ineinander. Auch der Papa atmet jedes Mal kräftig durch, wenn seine Tochter den Ball sicher gefangen hat.

Bisher, so scheint es mir, läuft alles nach Plan. Ich kenne die Musik genau, so oft habe ich sie am Bundesstützpunkt in Fellbach-Schmiden gehört, auch bei den Deutschen Meisterschaften und den Europameisterschaften. Bei der EM in Baku gewann Dascha, wie sie genannt wird, Bronze mit dem Ball.

Die letzten Takte erklingen, und dann springen alle auf. Tränen schießen Mama Tatjana und der Oma in die Augen. Ohrenbetäubender Lärm in der Feria von Valencia. Darja Varfolomeev ist der Publikumsliebling dieser WM. Ich schaue nach hinten, und da schreitet Dascha mit Tränen in den Augen von der Wettkampffläche. Sie weiß, dass diese Leistung sensationell war.

Die Spannung ist kaum auszuhalten

Dann kommt die Wertung, unglaubliche 35,650 Punkte. Der Schwierigkeitswert ist mit 8,300 Punkten nicht so hoch wie der ihrer Konkurrentin Sofia Raffaeli, aber die Ausführung mit 8,650 ist absoluter Bestwert. Den hat keine andere Gymnastin bei den gesamten Weltmeisterschaften erreicht. Varfolomeev ist die drittletzte Starterin und setzt sich an die Spitze des Klassements.

Aber noch ist nicht klar, welche Farbe das Edelmetall für sie haben wird. Die vorletzte Gymnastin, Viktoria Onopriienko aus der Ukraine, kann ihr nicht gefährlich werden. Dascha hat damit schon Silber sicher. Nur eine kann Varfolomeev noch die fünfte Goldmedaille entreißen, die Titelverteidigerin aus Italien, Sofia Raffaeli. Ihr letztes Handgerät ist das Band, das Angstgerät für die Gymnastinnen, da es sich so leicht verknoten kann, ein Windstoß genügt und der hohe Wurf wird verweht. Die Spannung bei der Familie und der deutschen Delegation ist kaum mehr auszuhalten.

Die Übung der Italienerin war nicht perfekt, aber reicht ihr Vorsprung zur Titelverteidigung aus? Nein, Darja Varfolomeev gewinnt mit 137,45 Punkten ihre fünfte Goldmedaille bei den Weltmeisterschaften in Valencia vor Sofia Raffaeli (135,70 Punkte) und Daria Atamanov aus Israel (131,40 Punkte).

Historischer Erfolg für Varfolomeev

Ich renne in die Mixed-Zone für ein Interview mit Darja Varfolomeev. Auf dem Weg dahin sehe ich auf einem Monitor, wie die Ausnahmegymnastin inbrünstig auf dem Siegerpodest die deutsche Hymne mitsingt. Fünf Mal insgesamt stand sie ganz oben auf dem Treppchen. Das ist historisch in Deutschland, und auch international hat das in der WM-Geschichte der Rhythmischen Sportgymnastik bisher nur die Russin Kanaeva geschafft.

Lächelnd und bescheiden absolviert Dascha den Interview-Marathon in der Mixed-Zone. Sie ist von sich selbst überrascht, erzählt sie mir. Dass sie es tatsächlich geschafft hat, alle möglichen WM-Einzelmedaillen in Valencia zu gewinnen. Mit fünf Goldmedaillen im Rucksack spaziere ich am nächsten Tag mit ihr und Mutter Tatjana für einen TV-Dreh durch die historische Altstadt in Valencia. Die Fans stürmen von überall her auf sie zu, und da realisiert Darja Varfolomeev, dass sie jetzt DER Gymnastik-Superstar ist.

Für mich waren diese Weltmeisterschaften in Valencia nicht nur der erste Einsatz, bei dem ich selbst filmisch gedreht habe. Als Olympia-Reporterin in der Rhythmischen Sportgymnastik war es einfach nur fantastisch, diesen historischen Erfolg dieser deutschen Ausnahmegymnastin live erleben und davon berichten zu dürfen.

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Regina Saur