Was alles muss Rafael Santos Borré um kurz vor Mitternacht am 18. Mai 2022 in Sevilla durch den Kopf gehen. Der Kolumbianer geht die langen, schweren, einsamen 50 Meter vom Mittelkreis bis zum Elfmeterpunkt. Borré ist der fünfte Frankfurter Elfmeterschütze im dramatischen Europa-League-Finale zwischen der Eintracht und den Glasgow Rangers.
Ich selbst kann kaum hinschauen. Ich stehe, weil ich nicht mehr sitzen kann. Ich winde mich von rechts nach links. Die Hände habe ich gefaltet und halte sie vor mein Gesicht.
Borré hat hoffentlich die besseren Nerven – zumindest trifft er bereits in der regulären Spielzeit zum 1:1-Ausgleich. Um 23:53 Uhr hat er die Chance, ganz Frankfurt in den Fußball-Himmel zu schießen – und mich. Torwart Kevin Trapp pariert den Versuch vom vierten Rangers-Schützen Aaron Ramsey – alle anderen verwandeln ihre Elfer.
Eintracht in die Wiege gelegt
Ich bin an diesem Abend auf St. Pauli in einer Sportsbar. Beruflich bin ich in Hamburg, für ein Finalticket hat es nicht gereicht. Die Eintracht ist mein Verein. Ausgesucht habe ich mir das nicht, meine Mutter war bereits in ihrer Kindheit und Jugend Dauerkartenbesitzerin. Ich hatte also keine Wahl. Selbst als ich in der Pubertät nicht immer auf einer Wellenlänge mit meinen Eltern lag, hat meine Mutter und mich die Liebe zur Eintracht immer verbunden.
Dieser Mittwoch im Mai ist schlimm. Den ganzen Tag kann ich an nichts anderes denken als an dieses Finale. Die Angst vor dem Scheitern ist riesig. Einen internationalen Titel hatte die Eintracht nur einmal vor 42 Jahren gewonnen. Und das Halbfinal-Aus 2019 im Elfmeterschießen gegen Chelsea war schmerzhaft genug. Unzählige Male habe ich in meinem Leben wegen dieses Vereins gelitten. Warum sollte das jetzt anders sein? Warum sollte ein Traum in Erfüllung gehen? Aber ich habe den Eindruck, in Hamburg bin ich mit meiner Sehnsucht nach dem Titel nicht allein. Überall tragen Menschen die Eintracht-Farben schwarz, weiß und rot.
FC Barcelona ausgeschaltet
Im Finale gehen die Rangers nach der Pause in Führung. Ich stelle mir die Frage, wie ich so naiv sein konnte zu denken, dass die Eintracht wirklich diesen Pokal gewinnen könne. Den Kopf stütze ich entweder in die Hände oder schüttele ihn fast pausenlos – ich bin komplett still.
Ich rede mir ein, ich könne ja nicht alles Glück der Welt haben. Schließlich bin ich im Viertelfinale gegen den FC Barcelona im Heimspiel im Stadion. Meine Mutter verzichtet mir zuliebe auf die Karte. Selbst hätte ich sie nie darum gebeten, mir sie zu überlassen. Eine Woche später schaltet die Eintracht die Katalanen gar aus. Wiederum bin ich beim Finaleinzug gegen West Ham mit meiner Mutter in der Frankfurter Arena.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Aber ich will es nicht wahrhaben. Ich will nicht verlieren. Ich will nicht, dass die Eintracht (wieder) mit leeren Händen dasteht. Und sie kommt zurück. Beim Ausgleich durch Borré verschütte ich mein Kaltgetränk vor Freude und klatsche mich mit jedem um mich herum ab.
Als Kevin Trapp kurz vor Ende der Verlängerung eine Weltklasse-Parade gegen Ryan Kent zeigt, jubelt jeder in der Bar. Ich hingegen breche fast zusammen und schmeiße meinen Kopf in die auf dem Tisch verkreuzten Arme.
Borrés Schuss in den Fußball-Olymp
Es kommt zum Äußersten, dem Elfmeterschießen. Nie werde ich vergessen, wo alle fünf Eintracht-Schützen ihre Elfmeter hinschießen. Christopher Lenz, Ajdin Hrustic, Daichi Kamada, Filip Kostic und eben jener Rafael Borré.
Nun ist dieser Moment da. Borré legt den Ball auf den Elfmeterpunkt. Er stellt sich hin und beginnt außerhalb des Sechzehners seinen Anlauf. Wie ein Revolverheld, die Hände zunächst in die Hüfte gestützt, läuft er stetig schneller werdend zum Ball – und knallt ihn mit rechts links oben in den Winkel.
In meinem Leben habe ich noch nie so laut geschrien. Danach weiß ich jedoch nichts mehr für die nächsten paar Sekunden. Die erste Erinnerung setzt unter dem Tisch in der Bar ein. Als ich wieder stehe, sehe ich um mich herum weinende Männer, die ungläubig den Kopf schütteln oder sich in den Armen liegen. Ich selbst muss mit den Tränen kämpfen.
"El comandante" – wie Borré genannt wird – befördert mich in den Fußballhimmel. Dieser Sport kann so viele Menschen zusammenbringen und zeigt mir, dass die Romantik noch nicht ganz erloschen ist in diesem Business.
Für mich wird die Nacht in Hamburg noch lang. Später telefoniere ich noch mit meiner Mutter. Sie ist beim Public Viewing im Frankfurter Stadion. Ich bedanke mich das erste Mal dafür, dass ich Eintracht-Fan geworden bin.