Wenn uns schlecht wird, vergeht uns sofort der Appetit. Woran das liegt, hat ein Team aus Neurobiolog*innen in einer Studie untersucht. Die Forschenden fanden heraus, dass ein bestimmtes Hirnareal - die Amygdala - dabei eine besonders wichtige Rolle spielt. Dort entdeckten sie eine neue Art von Hirnzellen: die DlK1-Neuronen.
Appetitlosigkeit als Schutzmechanismus
Die Amygdala ist der Teil unseres Gehirns, der für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Die hier entdeckten Nervenzellen, die Dlk1-Neuronen, werden durch übelkeitsauslösende Substanzen, Bitteraromen und Verstimmungen des Magen-Darm-Trakts aktiviert. Die Signale, die Dlk1-Neuronen senden, blockieren das Hungergefühl in unserem Körper und führen dadurch zu Appetitlosigkeit.
Dieser Vorgang klingt ganz logisch: Uns wird schlecht, weil wir zum Beispiel etwas Schlechtes riechen. Der Körper erzwingt jetzt eine Essenspause, damit er seine Ressourcen auf das unmittelbare Problem der Übelkeit lenken kann. "Wir deuten es als eine Art Schutzmechanismus", sagt Rüdiger Klein. Er ist Direktor des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz und Mitverfasser der Studie. Diese soll darüber aufklären, was in solchen Momenten im Gehirn passiert.
Hirnzellen im Experimenten mit Mäusen erforscht
Für die Studie machten die Forschenden ein Experiment mit Mäusen. Sie erzeugten bei den Mäusen künstlich Übelkeit, indem sie ihnen eine Chemikalie gaben. Dann beobachtete das Forschungsteam mithilfe von Fluoreszenzmarkierungen und Elektroden, wie die verschiedenen Neuronen-Gruppen in der zentralen Amygdala reagierten.
Die Fluoreszenzmarkierung, auch Fluoreszenzfärbung genannt, ist eine Methode zum Aufspüren von Zellen. Dabei werden Fluoreszenzfarbstoffe chemisch an spezifisch wirkende Antikörper gebunden, um den Ort und die Reaktion der nachzuweisenden Zellen zu ermitteln. In diesem Fall waren es die Nervenzellen.
Die Erkenntnisse aus dem Mäuse-Experiment lassen sich auf Menschen übertragen. Rüdiger Klein erklärt warum: "Die Gehirne von Säugetieren unterscheiden sich untereinander nur sehr gering. Hierdurch können die gewonnenen Informationen problemlos auf den Menschen übertragen werden."
So entdeckten Forschende die Ursache von Übelkeit in der Schwangerschaft
Die neuentdeckten Hirnzellen blockieren sogar die stärkste Lust auf Schokolade
Das Forschungsteam beobachtete zusätzlich das Verhalten der Mäuse. Hierfür verglich es Mäuse, die zuvor gefastet und Mäuse, die normal gegessen hatten. Fraßen die Mäuse bei Übelkeit weniger, obwohl sie vorher gefastet hatten?
Es zeigte sich ein überraschendes Ergebnis: Neben den bereits bekannten Sättigungsneuronen, gibt es eine bisher unbekannte Art von Hirnzellen in der Amygdala. "Die sogenannten Dlk1-Neuronen werden zum Beispiel durch Sättigung, Übelkeit oder Bauchweh aktiviert", berichtet Rüdiger Klein. Das Übelkeitssignal bekommen die Neuronen von anderen Hirnregionen, die unter anderem für die Verarbeitung von Ekel oder unangenehmen Gerüchen zuständig sind.
Passiert das, werden Hirnregionen gehemmt, die wichtig für die Nahrungsaufnahme sind. Damit blockieren die Neuronen sogar den stärksten Appetit. Selbst die Mäuse, die im Experiment zuvor gefastet hatten, hörten auf zu essen und sogar zu trinken.
Das Neue an dieser Beobachtung: Man vermutete zwar, dass es wahrscheinlich unentdeckte Zellen in der Amygdala gibt, die eine übelkeitsbedingte Appetitlosigkeit verursachen. Allerdings wurden bisher noch keine Neuronen gefunden, die ihre Axone tatsächlich auch in andere Gehirnregionen aussenden. Die sogenannten Axone sind Fortsätze von Nervenzellen, die Signale an ihre Umgebung weiterleiten.
Ein spezieller Schaltkreis im Gehirn für Übelkeit und Appetitlosigkeit
Das aktive Ausschalten der Dlk1-Neuronen führte dazu, dass die Versuchstiere sogar aßen, wenn ihnen eigentlich noch übel war. Der Mechanismus der Appetitlosigkeit wurde so ausgehebelt. Nach Angaben der Forschenden spricht das dafür, dass es im Gehirn von Maus und Mensch einen speziellen Schaltkreis für den übelkeitsbedingten Appetitverlust gibt.
Und es geht noch weiter: Durch ihre ungewöhnlich breite Vernetzung können die Folgen der Dlk1-Aktivierung über die bloße Appetitlosigkeit hinausgehen. Das könnte auch andere typisch menschliche Reaktionen auf Übelkeit erklären - zum Beispiel, dass wir uns bei Unwohlsein vor unseren Mitmenschen zurückziehen.
Die Beobachtung der Mäuse ergab, dass sie bei Übelkeit weniger als sonst Kontakt zu ihren Artgenossen suchten. Dieses Verhalten konnte ebenfalls auf die Wirkung der Neuronen zurückgeführt werden. Nicht beeinflusst wurde ein durch Neugier getriebenes Verhalten wie die Erkundung neuer Objekte.
Ergebnisse können bei der Erforschung von Essstörungen helfen
"Die aktuellen Erkenntnisse können auch für die Beforschung von Essstörungen gewinnbringend sein", erklärt Rüdiger Klein. Es kann passieren, dass im Gehirn die Balance zwischen den Signalen für die Appetit-anregenden Neuronen und die Appetit-hemmenden Dlk1-Neuronen nicht übereinstimmt. In diesem Fall kann es dazu kommen, dass sich Gefühle, die wir sonst als unangenehm empfinden, belohnend auf das Gehirn auswirken. Wie zum Beispiel ein leichtes Hungergefühl, das die meisten Menschen eher als störend beschreiben würden.
Betroffene Personen verspüren dann gerne Hungergefühle und nehmen deshalb zu wenig Nahrung auf. Im schlimmsten Fall kann dieses Ungleichgewicht zu Magersucht führen. In Zukunft könnten weitere Untersuchungen Einblicke in die Entstehung von Adipositas, Magersucht oder anderen Essstörungen geben, erklärt Rüdiger Klein. Auch die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien für diese belastenden Krankheiten sei denkbar.