Es erklingt das C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach, gespielt von Lang Lang – doch nicht in C-Dur, sondern verschoben nach D-Dur.
Werner Lamm hat das gemerkt, denn der Hamburger Kantor, der mehrere Chöre leitet, besitzt das absolute Gehör. Man kann ihm einen Ton auf dem Klavier oder einem anderen Instrument vorspielen, und er kann ihn benennen.
Absolutes Gehör galt als Zeichen für besondere Musikalität
Das absolute Gehör ist eine geheimnisumwitterte Fähigkeit. Früher hieß es, nur einer von 10.000 Menschen könnte die Tonhöhe von Noten exakt benennen, und es galt als Zeichen für musikalische Genialität. Der siebenjährige Wolfgang Amadeus Mozart etwa soll aus dem Nebenzimmer die korrekte Note gerufen haben, wenn ein Ton auf einem beliebigen Instrument gespielt wurde.
Doch in den letzten Jahren kommt die Forschung immer mehr zu dem Schluss: Das absolute Gehör zu haben ist nicht gleichbedeutend mit großem musikalischen Talent. Je nachdem, wie man sie definiert, ist die Fähigkeit zur Identifizierung absoluter Tonhöhen verbreiteter als angenommen. Und sie ist gar nicht so absolut wie gedacht.
Die meisten Menschen bemerken Tonhöhenverschiebungen, sagt der kanadische Musikforscher Stephen Van Hedger vom Huron University College, der diese Fähigkeit als “Tonhöhengedächtnis” bezeichnet. Sie können mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent sagen, ob ein Musikstück, das sie gut kennen, in der Tonhöhe verändert wurde. Die einen sind besser darin, die anderen schlechter.
Studie untersuchte Zusammenhang des absoluten Gehörs mit musikalischer Übung
Für ein Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse gerade veröffentlicht worden sind, machten Van Hedger und sein Team Versuche mit Probanden, die an Tonbeispielen von populären Hits feststellen sollten, ob sie in der Tonhöhe verändert worden waren oder nicht. Im Durchschnitt tippten sie erheblich besser, als wenn sie nur geraten hätten.
Die Forschenden wollten wissen, welche musikalischen Fähigkeiten die Grundlage dafür sein könnten. Man könnte vermuten, dass jahrelange musikalische Übung das Ergebnis verbessern würde – doch tatsächlich gab es keinen Zusammenhang.
Sie führten mit ihren Probandinnen und Probanden weitere musikalische Tests durch. Töne singen, sich Musik im Kopf vorstellen und in einem Experiment Töne für kurze Zeit merken. Dann bekamen die Studienteilnehmer erst einen Ton vorgespielt, dann einen zweiten, den sie mit den Pfeiltasten einer Computertastatur in kleinen Schritten auf die gleiche Höhe wie den ersten bringen sollten, den sie aber nicht wieder zu hören bekamen.
Sich Töne merken können hängt mit Erkennen von Tonhöhenverschiebungen zusammen
In der Auswertung stellte sich heraus: Diese Fähigkeit, sich kurzfristig Töne zu merken, sagte am besten das Abschneiden beim Test mit den manipulierten Hits voraus.
Menschen mit absolutem Gehör waren bei dem Experiment übrigens ausgeschlossen – sie könnten schummeln, indem sie die Notennamen der beiden Töne erkennen, dann ist es natürlich viel einfacher, den zweiten an den ersten Ton anzupassen.
Trotzdem glaubt Van Hedger, dass sein Experiment auch Konsequenzen für unser Verständnis des absoluten Gehörs hat. Menschen, die sehr gut sind bei diesem Versuch mit den Popsongs, sagt er, könnten vielleicht mit viel musikalischem Training auch lernen, Noten fehlerfrei zu benennen, weil sie dann irgendwann wissen, wie zum Beispiel ein D klingt.
Absolutes Gehör als Fähigkeit eher ein Kontinuum
Das legt den Schluss nahe, dass unsere Fähigkeit, Tonhöhen zu identifizieren, nichts ist, das man entweder hat oder nicht, sondern irgendwo in einem Kontinuum angesiedelt ist.
Stephen Van Hedger hat übrigens auch das klassische absolute Gehör. Trägt er mit seinen Forschungen dazu bei, seine angeblich so exklusive Fähigkeit zu entmystifizieren?
Tatsächlich sieht der Forscher seine Aufgabe darin, das Konzept des absoluten Gehörs zu zerstören und den Leuten, die es angeblich nicht haben, zu zeigen, dass sie eben doch ein bisschen davon besitzen. Wenn wir nur auf die Extreme schauten, dann würden wir diesem komplexen musikalischen Phänomen nicht wirklich gerecht.