Das "Wir" sei ein Pronomen, das einbindet und ein Pronomen das ausgrenzt - so formulierte es die scheidende SWR-Vielfaltsbeauftragte, Anna Koktsidou, zu Beginn des 19. SWR Medienforums Migration. Es stand diesmal unter dem Motto: "Wir, hier. Debatten einer Migrationsgesellschaft." Dass die Veranstaltung mitten im Bundestagswahlkampf stattfinden würde, war bei der Planung noch nicht abzusehen. Dass hier im Schatten des Rechtsrucks in Deutschland diskutiert würde, allerdings schon.
Wie sollen Medien berichten, ohne Herausforderungen in der Einwanderungsgesellschaft zu verschweigen, aber eben auch ohne verzerrte und rassistische Narrative zu verbreiten? Wer darf überhaupt sprechen, wem hören wir zu oder wie es Koktsidou ausdrückte: "Wenn ich sehe, wer medial zu Wort kommt, dann frage ich mich schon manchmal, wann kommen eigentlich die zu Wort, die damit gemeint sind."
Wenn ich sehe, wer medial zu Wort kommt, dann frage ich mich schon manchmal, wann kommen eigentlich die zu Wort, die damit gemeint sind.
SWR-Intendant Gniffke gestand in seiner Rede ein, dass auch sein Haus da noch Nachholbedarf habe. Gleichzeitig wies er aber auch auf einige Maßnahmen hin, die zu mehr Vielfalt und sensiblerer Berichterstattung führen sollen. Es gebe unter anderem Leitfäden für die Redaktionen zu antirassistischer und gendersensibler Sprache, Diversity Talks für die Mitarbeitenden mit Expertinnen und Experten und Bemühungen, mehr Mitarbeitende mit internationaler Geschichte auf allen Ebenen zu gewinnen.
Asylforscherin: Migration muss oft als Ursache für sämtliche Probleme herhalten
Den Auftakt machte die Migrationsforscherin Prof. Dr. Petra Bendel: Sie wies darauf hin, dass in der Debatte um Migration und Asyl bestimmte Narrative immer weitergetragen und auch von Medien reproduziert werden, wenn sie gar nicht (mehr) stimmten. Die Debatten in der Migrationsgesellschaft seien zunehmend toxisch geworden.
Die Debatten in der Migrationsgesellschaft sind zunehmend toxisch geworden.
Als Beispiel nannte sie unter anderem das Bild der "überforderten Kommune". Hier habe sich in den vergangenen beiden Jahren viel getan. Bei einer Umfrage in den Städten und Gemeinden sprachen wesentlich weniger von Überlastung als zuvor. Außerdem kämen inzwischen viel weniger Menschen nach Deutschland und die meisten von ihnen regulär.
Das würde nicht nur oft verzerrt dargestellt, sondern damit auch die eigentlichen Probleme überdeckt - wie die Wohnungsnot, die Kitakrise oder schlechte medizinische Versorgung. Bendel appellierte an Politikerinnen, Politiker und Medien, das klarer zu kommunizieren.
Rassismusforscher fordert kontinuierliche Berichterstattung zum Thema
Dr. Cihan Sinanoğlu, Leiter der Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors am DeZIM-Institut, stellte in seinem Vortrag die Frage, warum in Deutschland so viel über Migration diskutiert werde und gleichzeitig verhältnismäßig weniger über Rassismus.
Nach repräsentativen Studien des Rassismusmonitors sind 90 Prozent der Menschen in Deutschland davon überzeugt, dass es Rassismus im Land gibt. Außerdem geben etwa zwei Drittel an, schon mal mit Rassismus in Berührung gekommen zu sein. Entweder waren sie selbst betroffen, haben rassistische Äußerungen oder Verhalten gegenüber anderen miterlebt oder entsprechende Erlebnisse erzählt bekommen.
Das müsse sich auch in politischen und medialen Debatten widerspiegeln. Er forderte Journalistinnen und Journalisten auf, kontinuierlich über Rassismus und auch rassistische Strukturen in Institutionen zu berichten. Häufig geschehe das vor allem anlassbezogen, zum Beispiel nach einem rassistischen Anschlag.
Podiumsdiskussion: Es braucht mehr Vielfalt in den Medien
Die Podiumsdiskussion drehte sich unter anderem um die Frage, wie Vielfalt auch in den Medien besser dargestellt und vermittelt werden kann. Elena Kountidou, Geschäftsführerin der "Neuen deutschen Medienmacher*innen" meinte, das A und O seien vielfältige Teams vor und hinter Kamera und Mikrofon - und auf den Führungsebenen der Medienhäuser. Joana Kohrs, Leiterin einer Agentur für Bipoc-Schauspielerinnen und -Schauspieler sagte, auch an Filmsets habe sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Doch je mehr Menschen mit internationaler Geschichte Drehbücher schreiben, Regie führen und schauspielern würden, desto mehr Perspektiven würden sich auch in den Geschichten widerspiegeln. Dass Vielfalt im Team auch zu Vielfalt im Denken führe, bestätigte auch die Unternehmerin Agalya Jebens. Ohne Mitarbeitende aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Perspektiven sei in ihrem Unternehmen Innovation gar nicht möglich.
José F.A. Oliver und Deniz Utlu: Die Kraft des Imaginären
Den Schlusspunkt setzte - so ist es Tradition beim SWR Medienforum Migration - die Kunst: Bevor sie aus ihren Werken lasen, setzten sich die beiden befreundeten Schriftsteller José F.A. Oliver und Deniz Utlu mit der Frage auseinander, inwieweit ihre Kunst auch unter anderem rassistische Haltungen in der Gesellschaft verändern kann.

Oliver, Anfang 60, in Hausach im Schwarzwald als Kind andalusischer Gastarbeiter geboren und aufgewachsen schilderte, wie seine Mutter unter dem erneuten Rechtsruck im Land leidet: "Jetzt haben sie es wieder mit uns". Er werde sich so lange einmischen, wie es geht: "Ich glaube schon an die Kraft des Imaginären, dem etwas entgegenzusetzen."
Ich glaube schon an die Kraft des Imaginären, dem etwas entgegenzusetzen.
Oliver freue sich aber auch, dass jüngere Künstlerinnen und Künstler wie Deniz Utlu auch in den Debatten in der Einwanderungsgesellschaft neue Perspektiven einbrächten. Deniz Utlu sagte, er habe sich im Laufe der Zeit von dem Druck frei machen müssen, dass er mit seiner Kunst etwas verändern kann: Es bedürfe einer Öffnung des Herzens, sich aufeinander einzulassen. Das könne die Literatur alleine nicht, dazu brauche es die Lesenden.
Verabschiedung von Anna Koktsidou als SWR Beauftragte für Vielfalt und Integration
Mit dem 19. SWR Medienforum verabschiedete sich die SWR-Vielfaltsbeauftragte Anna Koktsidou nach 10 Jahren im Amt und 35 Jahren beim SWR in den Ruhestand. Intendant Prof. Dr. Kai Gniffke verabschiedete sie mit einer sehr persönlichen Dankesrede, in der er ihren beharrlichen Einsatz für die Vielfalt im SWR betonte. Die Unterzeichung der Charta der Vielfalt, Leitfäden für diversitätssensible Berichterstattung und Konzepte für die Gewinnung vielfältigerer Mitarbeitenden seien ihrem Einsatz zu verdanken. Auch viele Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Netzwerkpartner nutzten das Medienforum, um sich von Anna Koktsidou zu verabschieden. Ihr Nachfolger wird Stephan Lehnhardt.