Worpswede: Heinrich Vogeler begegnet Martha
1894 reist der 21-jährige Heinrich Vogeler, der an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert, in seine Geburtsstadt Bremen. Er möchte seinen Studienkollegen Fritz Overbeck besuchen. Doch der hatte sich gerade in dem kleinen Dörfchen Worpswede eingemietet, um dort zu malen. Worpswede ist ein beschauliches Dorf vor den Toren Bremens. Hier zog es Künstler hin, die raus wollten aus dem akademischen Kunstbetrieb. Heinrich reist Fritz Overbeck nach.
Als Vogeler zusammen mit seinen Malerkollegen Fritz Mackensen, Hans am Ende, Fritz Overbeck und Otto Modersohn auf der flachen Kuppe des Weyerbergs sitzt und Overbeck Gedichte rezitiert, kommt ein Mädchen vorbei – Martha.
Martha Schröder ist die Tochter einer alleinerziehenden Lehrerin aus Worpswede. Sie wird später seine Frau und liebstes Motiv.
Heinrich Vogeler gestaltet den Barkenhoff in schnörkelhaftem Design
Heinrich Vogeler kauft mit dem Erbe seines Vaters einen kleinen Bauernhof in Worpswede, den er mit viel eigener Arbeit zum Barkenhoff umgestaltet. Der Jugendstil-Künstler überlässt bei der Gestaltung des alten Bauernhofes nichts dem Zufall, er entwirft selbst die Türgriffe, Tapeten, Gläser und Besteck, Möbel und Kleider für seine Frau. Vogeler legt hier schon den Grundstein für seine große Karriere mit dem schnörkelhaften Design.
Der Künstler inszeniert sich selbst als eine Art Märchenprinz: Heinrich Vogeler trägt Gamaschen, Hemden mit engem Vatermörder-Kragen, Frack und Gehstock. Leben und Kunst sind für ihn eins. Als Jugendstilkünstler verdient er viel Geld mit freien Grafiken.
In Vogelers Barkenhoff ist dieser Reichtum durchaus sichtbar: an den weißen Stühlen mit hoher Lehne, in die der Künstler Tulpen hineinschnitzt, an dem feinen Porzellan, das mit Rosen verziert ist und an dem edlen Silberbesteck mit geschwungenem Griff.
Worpswede als "Wunderland"
Heinrich Vogeler macht seinen Hof zum Treffpunkt der Künstlerkolonie Worpswede. Die junge Malerin Paula Becker, später Paula Modersohn-Becker, schwärmt:
Doch der Jugendstil wird abgelöst vom Expressionismus mit seinen starken Farben und dem Kubismus mit den aufgebrochenen Formen. Heinrich Vogeler sieht seine Märchenwelt in Trümmern, die Künstlerkolonie Worpswede zerfällt. Privat entfremdet Vogeler sich von seiner Frau Martha, beruflich fehlen ihm künstlerische Perspektiven.
Vogeler übt 1918 in einem Friedensappell Kritik an Kaiser Wilhelm II.
Das Ergebnis der privaten und künstlerischen Krise: Heinrich Vogeler meldet sich freiwillig zum Militärdienst, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht. Doch Vogeler wendet sich bald ab vom Krieg und schreibt 1918 einen Brief an die höchste deutsche Instanz, an Kaiser Wilhelm II. Vogelers Friedensappell mit dem Titel "Das Märchen vom lieben Gott" beendet er mit den Worten:
Vogeler lebt antikapitalistisch. Er träumt vom neuen Menschen in einer neuen klassenlosen Gesellschaft mit gleichen Chancen für alle. Einem Menschen, der seinen Sinn im Leben nicht in dem Streben nach Profit sieht. Die Kommune, die Vogeler auf dem Barkenhoff gründet, scheitert an ideologischen und privaten Auseinandersetzungen. Vogeler zieht sich vom Barkenhoff zurück und schenkt ihn schließlich 1924 der Roten Hilfe, einer Organisation zur Unterstützung linker politisch Verfolgter. Die machen aus dem ehemaligen Künstlertreff ein umstrittenes Kinderheim.
Heinrich Vogeler reist in die Sowjetunion
Mit seiner Geliebten Sonja Marchlewska, Tochter eines Kommunisten und Begründers der Internationalen Roten Hilfe, reist Vogeler 1923 in die Sowjetunion. Immer wieder kehrt er aber nach Worpswede zurück, um Fresken in der großen Diele weiter zu malen, die er 1920 begonnen hat – Bilder von der Geburt eines neuen Menschen, vom Krieg, Kriegsgefangenen, vom politischen Kampf.
Heinrich Vogeler sieht für sich und seine Ideale in Deutschland keine Zukunft mehr und zieht 1931 nach Moskau. In der neuen Sowjetunion hofft der Künstler, seinen Traum eines neuen Menschen verwirklichen zu können. An seinen großen Erfolg als Jugendstilkünstler kann er damit aber nicht anknüpfen.
SS setzt Vogeler auf Fahndungsliste
In Nazi-Deutschland wird Heinrich Vogeler jetzt als Feind angesehen. Die SS setzt den Künstler auf die Fahndungsliste. Als die deutsche Wehrmacht seine neue Heimat angreift, tritt Vogeler in die Propagandaarmee der Roten Armee ein.
Aufgrund der Evakuierung Moskaus wird Heinrich Vogeler mit dem Zug nach Kasachstan geschickt. Der Künstler haust in der Ecke einer Bauernhütte, zusammen mit einer anderen Familie. Die Brille, die er zum Sehen braucht, ist auf der Fahrt zerbrochen – er hat keine warme Kleidung und kaum Nahrung, denn seine Rente aus Moskau erreicht ihn nicht.
Heinrich Vogeler stirbt an Krankheit und Hunger am 14. Juni 1942 in Kasachstan. Das genaue Grab ist unbekannt.
Das Erbe von Heinrich Vogeler
Was bleibt von dem Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR für seine politischen Arbeiten und im Westen für seine Rolle als Märchenmaler, als Jugendstilkünstler verehrt wurde?
Mit seinem Jugendstil-Design hat Heinrich Vogeler die Kunst geprägt, mit seinem umfassenden Lebenskonzept die Künstlerkolonie Worpswede und den Mythos. Doch Vogeler wollte mehr: Die Welt zu einem besseren Ort machen, das war sein Ziel, zuerst durch Kunst und als die ihm nicht mehr reichte auch durch politisches Engagement.
Mit dem Barkenhoff zumindest ist es Vogeler gelungen, einen Ort zu schaffen, der – auch zu seinem 150. Geburtstag – viele Menschen anzieht und ein wichtiges Zentrum der Künstlerkolonie Worpswede bleibt.