Für ihre Kunst riskiert Marina Abramović ihr Leben. Die Performance-Künstlerin, die am 30. November 1946 in Belgrad geboren wurde, hat in ihren Auftritten die Grenzen ihrer körperlichen und mentalen Kräfte überschritten und sich wie kaum eine ander Künstlerin in ihrem Werk der Gefahr ausgesetzt. Sie hat die Grenzen der Kunst gesprengt und die Performance ins Leben übertragen.
1974: Rhythm 0 – Tut mit mir, was Ihr wollt!
Drei Dinge wolle sie gerne auf die Bühne bringen, durch diesen Prozess hindurchgehen und auf der anderen Seite wieder herauskommen, frei von ihren eigenen Ängsten, so Marina Abramović: Schmerz, Angst vor Leiden und Angst vor dem Tod.
1974 stellt sich die Künstlerin reglos in den Raum der Galerie Morro in Neapel. Sie ist bereit, ihr Leben zu riskieren. Für das Publikum legt sie 72 Objekte auf einen Tisch. Pistole, Schere, Rasierklinge, Rose, Weintrauben, Brot und Honig. Für sechs Stunden verwandelt sie sich in eine Puppe und stellt den Besucherinnen und Besuchern ihren Körper zur Verfügung.
So lauteten die Spielregeln für Marina Abramovićs legendäre Performance "Rhythm 0". Fotos zeigen die 28-jährige Künstlerin mit versteinertem Gesicht, zunächst noch angezogen. Hier erzählt sie von ihren Erfahrungen während der Performance:
Als die Künstlerin aus ihrer Rolle heraustrat, erfasste die Besucher Entsetzen über sich selbst und sie suchten das Weite.
2010: The Artist in Present – niedrigste Instinkte und menschlichste Gefühle
Mehr als dreißig Jahre später zeigten Besucherinnen und Besucher in aller Öffentlichkeit ihre eigene Verlorenheit in der berühmtesten Arbeit "The Artist is Present" im Jahr 2010 im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), als Marina Abramović drei Monate lang einzelnen Menschen reglos gegenübersaß und ihnen in die Augen sah. In der einen Performance weckte Marina Abramović die niedrigsten Instinkte, in der anderen die menschlichsten Gefühle.
Zwischen beiden Werken liegt ein langer Weg, eine Suche nach neuen Lebensformen und Bewusstseinszuständen. Dazwischen liegen Jahre des Reisens, der Auseinandersetzung mit den asiatischen Philosophien und den Zeremonien indigener Menschen in Australien oder Lateinamerika.
"Ich bin drei Marinas", schreibt Marina Abramović in ihrer Biografie: "Durch Mauern gehen": "die Kriegerin, die Spirituelle und die Jammertante."
Marina Abramović: Scham und Gewalt prägen Kindheit und Jugend
Ihre ersten Lebensjahre in Belgrad verbrachte sie bei ihrer Großmutter, die auch im Kommunismus in die Kirche ging und, die morgens und abends Kerzen anzündete und betete. Als Marina Abramović dann mit sechs Jahren zurück in die Wohnung ihrer Eltern kam, wurde Scham das bestimmende Gefühl ihrer Jugend. Geschämt habe sie sich etwa für das Verhältnis zwischen ihren Eltern.
Ihre Eltern hatten sich als Partisanen im Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Ihre Mutter leitete nach dem Krieg das Museum für Kunst und Revolution in Belgrad. "Wahre Kommunisten sind bereit, durch Mauern zu gehen", brachte sie ihrer Tochter bei und schlug sie immer wieder zur Strafe. Ihr Vater schenkte ihr eine Pistole zum Geburtstag. Als junges Mädchen zog Abramović sich in der weitläufigen Belgrader Wohnung in ihr Zimmer zurück zu Gesprächen mit Phantasiegestalten.
Kunst als Exorzismus: Befreiung von den Dämonen der Vergangenheit
Sehr viel später machte Marina Abramović ihre Scham auf der Bühne öffentlich, um das lähmende Gefühl ihrer Kindheit hinter sich zu lassen. Für die Theaterinszenierung von "Life and Death of Marina Abramović" aus dem Jahr 2011 forderte der Regisseur Robert Wilson sie auf, ihre eigene Mutter zu spielen. Die Arbeit war eine Art Exorzismus, eine Befreiung von den Dämonen der Vergangenheit. Dennoch sagt sie: Es ist das Schwierigste, die eigene Scham vor dem Publikum auszustellen.
1974: Rhythm 5 – Brennender Stern
In den 1960er- und 1970er-Jahren nutzten vor allem Künstlerinnen die Performance als ein Mittel der Befreiung ihrer Körper, als Revolte gegen das Patriarchat. Bei Marina Abramović richtete sich der Widerstand auch gegen das totalitäre System in Jugoslawien unter Tito. Für Rhythm 5 legte sie sich 1974 in einen fünfzackigen kommunistischen Stern aus Holz und Sägespänen, tränkte diesen mit Benzin und zündete alles an. Besucher mussten sie in Sicherheit bringen, als sie das Bewusstsein verlor.
Künstlerpaar: Marina Abramović und Ulay
1975 lernte Marina Abramović den Künstlerkollegen Ulay kennen. Frank Uwe Laysiepen wurde 1943 im nationalsozialistischen Deutschland geboren; er starb 2020. Während Abramovićs Eltern Widerstand gegen die Nazis leisteten, kämpfte Ulays Vater bei Stalingrad.
Wie ein anderes berühmtes Künstlerpaar, Christo und Jeanne-Claude, hatten sie beide am gleichen Tag Geburtstag, am 30. November. Sie träumten davon, zu einem symbiotischen Wesen zu verschmelzen, in dem sich männliche und weibliche Anteile die Waage hielten. In ihrer Kunst aber trieben sie den Geschlechterkampf auf die Spitze. In "Rest Energy" von 1980 stehen sie voreinander. Sie hält den Bogen, er spannt die Sehne. Der Pfeil zielt direkt auf ihre Brust. Die Liebe ist hier ein lebensgefährlicher Pakt. Nur eine Sekunde der Schwäche und ihr Herz wird durchbohrt. Der Film entstand unter dem Eindruck der Hypnose.
Die Zusammenarbeit des Künstlerpaares gipfelte in dem gigantischen Projekt: "The Lovers". Drei Monate wanderten Marina Abramović und Ulay 1988 von beiden Seiten der Chinesischen Mauer aufeinander zu. Geplant war, dass sie sich in der Mitte treffen und heiraten würden. Stattdessen trennten sie sich mit einem kühlen Händedruck. Für Marina Abramović wurde danach das Publikum zum Partner ihrer Performances.
1997: Balkan Baroque – Gestank von Krieg, Tod und Verwesung
Die Performance ist für sie die Kunst, einen Bewusstseinszustand auf das Publikum zu übertragen. Mit Esoterik hat das wenig zu tun, eher mit Radikalität, mit Selbstbeherrschung und Willenskraft. In "Balkan Baroque", 1997 bei der Biennale von Venedig aufgeführt, inhalierten die Besucher die Atmosphäre von Scham, Schmerz und Schuld. Sie tauchten ein in den infernalischen Gestank von Krieg, Tod und Verwesung. Vier Tage schrubbte Marina Abramović im Keller des italienischen Pavillons die Fleischfetzen von 2.000 Rinderknochen. Hinter ihr erschienen auf Bildschirmen die Porträts ihrer Eltern. Die Arbeit zum Krieg in Jugoslawien zeigte, wie verflochten persönliche und politische Geschichte ist vor den Abgründen des 20. Jahrhunderts.
2023: After Life – Leben nach dem Tod
Marina Abramović hat sich aus den repressiven Strukturen ihrer Familie und ihres Landes befreit, hat gegen patriarchale Muster gekämpft, sich mit ihren eigenen Gefühlen von Angst, Scham und Schmerz auseinandergesetzt und eine neue Verbindung zur Natur gesucht. Wie eine Pionierin hat sie Neuland entdeckt in der Kunst.
Für ihre nächste Ausstellung in der Royal Academy in London wird sie einen weiteren unbekannten Kontinent erkunden – "After Life" – das Leben nach dem Tod.
Für die Sufi sei das Leben ein Traum, aus dem wir mit dem Tod aufwachten, sagt Marina Abramović. Und genau das interessiert die Performance-Künstlerin.