2019 war das britische Parlament mit fast nichts anderem befasst als mit dem Brexit. 2020 kam noch Corona hinzu. In dieser Zeit bekamen auch viele Nicht-Briten erstmals etwas mit von den dortigen Gepflogenheit, die so ganz anders sind als die im Bundestag oder anderen Parlamenten der Welt.
- Regierung und Opposition sitzen sich auf gepolsterten Holzbänken gegenüber.
- Andauernd ruft der Speaker die Abgeordneten zur Ordnung auf. Das "Ooorrrder!" des langjährigen Parlamentssprechers John Bercow ist legendär.
- Man klatscht nicht, sondern ruft "Yeah!"
- Die Atmosphäre erinnert oft an eine Sportveranstaltung.
- Die Politiker sprechen sich nie direkt an, sondern wenden sich immer den Speaker. Im Zweifel auch: "Mr. Speaker, der Regierungschef redet Unsinn".
- Vor den Bankreihen von Regierung und Opposition verläuft jeweils eine rote Linie. Während einer Sitzung dürfen Abgeordnete die Linie nicht übertreten. Der Abstand zwischen beiden Linien beträgt "zwei Schwertlängen" – ein Relikt aus dem Mittelalter. So konnte bei Auseinandersetzungen nichts passieren ...
- Das Parlament darf nicht beginnen, bevor nicht der königliche Zeremonienstab "Mace" feierlich hineingetragen und in der Mitte der Kammer platziert worden ist.
Warum das Britische Parlament anders ist
"Seit 1688 hatten wir keine Revolution mehr", erklärt der Historiker Paul Seaward von der British Academy. Revolutionen sind immer ein Moment, Abläufe nochmal ganz neu zu denken. Einen solchen Moment gab es in der britischen Geschichte seit Jahrhunderten nicht mehr. Deshalb wirken die Regeln nicht nur altertürmlich, sondern sind zum Teil – nicht geregelt. Eben weil eine geschriebene Verfassung fehlt, die genau sagt, was das Parlament darf und wo seine Grenzen sind. Das ist Anlass für ständiges Gerangel zwischen Regierung und Parlament.
"Wir hatten nach 1688 nie die Gelegenheit, unsere verfassungsmäßigen Vereinbarungen neu zu überdenken", sagt Seaward. "Also haben wir eine komplizierte Struktur als Verfassung, die aus lauter Kleinteilen aus dem Mittelalter und den späteren Jahrhunderten besteht. Niemand hat sich je hingesetzt und darüber nachgedacht, wie sie zusammenpassen sollen."
Geschichte des Parlaments
Das britische Parlament besteht aus zwei Kammern, dem Oberhaus (House of Lords) und dem Unterhaus (House of Commons). Ursprung des House of Lords war ein Rat, dem vom König ausgesuchte Männer angehörten. Leute, an denen er nicht vorbei kam: die Herzöge und Grafen, die großen Grundbesitzer.
Etappe 1: Die Magna Carta
König John I. verlangt seinen Untertanen enorme Steuern ab, um seine Kriege in Frankreich zu finanzieren. Die englischen Barone rebellieren. Als er 1214 von einem Feldzug aus Frankreich zurückkehrt, begehren sie auf und zwingen ihn, eine Urkunde zu unterzeichnen: die Magna Carta.
Erste Erwähnung des Wortes "Parliament"
Laut Artikel 12 der Carta durfte der König fortan auch keine Steuern erheben, die nicht von einem Allgemeinen Rat des Königreichs genehmigt worden waren. Das Wort "Parliament" taucht als Bezeichnung für diese "Allgemeinen Räte" um 1230 auf.
Etappe 2: Wahlen und Erweiterung des Parlaments auf Nicht-Adelige
"Das Parlament wird aber erst zu einem solchen, wenn auch weniger wichtige Leute, Städter und Gutsbesitzer zu den Versammlungen eingeladen werden", sagt Paul Seaward. Die Geschichte des House of Commons beginnt im 13. Jahrhundert, als eben diese Leute in das House of Commons geschickt werden, um ihre lokale Gemeinschaft im Parlament zu vertreten.
"Soweit wir wissen, gab es in den Landkreisen auch eine Art Wahlverfahren. Gewählt wird also seit den Anfangsjahren des Parlaments. Die Idee war, dass die Volksvertreter befugt sind, die Erhebung von Steuern zu genehmigen."
Etappe 3: Erste Parlaments-"Sitzung" 1265 – mehr Befugnisse
Das erste englische Parlament kam in Westminister am 20. Januar 1265 zusammen.
1258 hatten die Barone den König entmachtet und legten die Regierungsgeschäfte in die Hände eines Adelsrats. Das Regime De Monforts stellte die Weichen für die Herrschaftsform, die sich in England in den folgenden Jahrhunderten etabliert.
"Der König herrscht zwar von Gottes Gnaden, dennoch wird seine Herrschaft durch bestimmte Regeln gemäßigt", erklärt der Historiker Paul Seaward.
Die Reformation, die anglikanische Kirche und Heinrich VIII.
Was das Parlament richtig mächtig machte, war die englische Reformation. Sie war der Moment, in dem die Engländer gemeinsam sagen: Wir verbannen die Autorität und die Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche aus England. Und sie taten das mit einem Parlamentsgesetz. Die Reformation machte in den 1530er Jahren klar, dass man durchs Parlament gehen muss, wenn man etwas ändern will.
Königliche Eheprobleme: Parlament verhilft Heinrich VIII. zur Scheidung
Es war auch das Parlament, das für König Henry (Heinrich) VIII. den Weg freimacht, seine Geliebte Anna Boleyn zu heiraten und seine Gemahlin Katharina von Aragón loszuwerden. Henry würde die Ehe am Liebsten vom Papst annullieren lassen. Der Heilige Vater weigert sich aber hartnäckig. Daraufhin beschließt der König, ein Parlament einzuberufen.
Das Reformations-Parlament tagt von 1529 bis 1536. Es versucht, den Papst durch das Einbehalten von Kirchensteuern unter Druck zu setzen. Als das nichts hilft, bringen die Parlamentarier die englische Kirche unter die Kontrolle der Krone. Dies geschieht 1534 mit dem Parliament's Act. Das Primat des Monarchen über die Kirche wird darin festgesetzt, die anglikanische Kirche gegründet und der Bruch mit der "einen, heiligen, katholischen und apostolischen" Kirche vollzogen.
"Die Englische Reformation wurde zwar vom König angeführt, aber er musste sie irgendwie legal vollziehen, damit sie vom Volk akzeptiert wurde", so Paul Seaward. "Er wählte den Weg durchs Parlament. Die Auflösung der Klöster, die Verbannung der päpstlichen Gerichtsbarkeit aus England – all diese Dinge sind durch Parlamentsgesetze besiegelt worden."
Etappe 4: Hinrichtung eines Königs und die Abschaffung der Monarchie
Unweit von Downing Street, in Whitehall, ließ das Parlament einst einen König hinrichten, wegen Hochverrats. Charles I. hatte das Parlament herausgefordert, immer wieder.
Charles I. versucht, ohne die Bewilligung des Parlaments Steuern zu erheben. Wer nicht zahlt, wird verhaftet und ohne Anklage eingekerkert. Wieder kommt es zum Streit mit dem Parlament. König Charles löst das Parlament auf. 11 Jahre gibt es keins. Es kommt zu Streiks; manche Untertanen weigern sich, Steuern zu zahlen. Um Steuern erheben zu können, setzt Charles das Parlament wieder ein.
Der Konflikt spitzt sich zu, als Charles versucht, fünf Abgeordnete verhaften zu lassen. Daraufhin rebellieren die Londoner Bürger, Stadtmilizen vertreiben den König aus der Hauptstadt. Es kommt zum Bürgerkrieg. Das Land spaltet sich in Royalisten und Roundheads – die Anhänger des Parlaments.
Am 14. Juni 1645 schlägt die Parlamentsarmee unter Führung von Oliver Cromwell den König in die Flucht und erobert ganz Südengland. 1646 ist der Bürgerkrieg beendet. Im Januar 1649 wird Charles I. angeklagt und zum Tode verurteilt. Zum ersten und einzigen Mal in der englischen Geschichte ist das Land eine Republik und keine Monarchie mehr. Denn von 1649 bis 1653 ist das Parlament der einzige Souverän.
Etappe 5: Die Monarchie kommt zurück, weil das Parlament es so will
Doch das Parlament enttäuscht. Es bringt die religiösen und sozialen Reformen nicht voran, die die Soldaten erwarten. Es folgen Jahre politischer Wirren und schließlich 1660 freie Wahlen. Sie bringen wieder eine Mehrheit der Royalisten. Diese sehen in der Wiedereinsetzung eines Königs den einzigen Ausweg aus der Krise.
1688 kommt es nochmal zu einem Regimewechsel. William von Oranien, der Schwiegersohn von James II., machte diesem erfolgreich den Thron streitig. Das Parlament tritt 1689 zusammen und besiegelte diesen Regimewechsel. Ab da begann man, das Land als eine parlamentarische Monarchie zu betrachten.
Fazit, so Paul Seaward: "Die Monarchie gibt es, weil das Parlament es so will."
Die Zukunft des britischen Parlaments
Nun ist an der Brexit-Frage ein neuer Konflikt zwischen Exekutive und Parlament entflammt. Der könnte dazu führen, dass Großbritannien, wo bisher nur Konventionen das Verhältnis von Institutionen zueinander regeln, eine geschriebene Verfassung erhält. Und die würde wohl die Rechte des Parlaments stärken.