Bienen zählen Wegmarken, um sich zu orientieren; Pferde erkennen, ob man ihnen mehr oder weniger Futter anbietet; Schimpansen hören genau, wie viele fremde Artgenossen sich in ihrer Nähe aufhalten.
Die Anfänge der "Können Tiere rechnen?"-Forschung
Ob Tiere zählen können, fragten sich Wissenschaftler schon vor mehr als hundert Jahren, sehr ernsthaft. Sogar eine wissenschaftliche Kommission fand sich, nachdem die Fachwelt der Pferdekenner und die Öffentlichkeit im Jahr 1904 auf das Pferd des Lehrers Wilhelm von Osten aufmerksam geworden waren. Zwei Jahre zuvor hatte er die geistigen Fähigkeiten des Hengstes in einer Verkaufsannonce des ‚Militärwochenblattes‘ angepriesen.
"Rechenkünstler" Hengst Hans
Der Halter hatte lange mit dem Pferd trainiert. Wilhelm von Osten gab ihm Rechenaufgaben: Hengst Hans sollte Zahlen zusammenzählen, voneinander abziehen, miteinander malnehmen oder durcheinander teilen. Und tatsächlich, das Ross klopfte so oft mit einem Huf, bis das Ergebnis erreicht war. Sogar vor dem preußischen Kultusminister und einem Flügeladjutanten des Kaisers zeigte das Pferd seine Zahlenkunst.
Dreizehn skeptische Wissenschaftler, Zoologen und Psychologen vermuteten einen Zirkustrick. Aber sie konnten trotz akribischer Suche keinen entdecken. Und so attestierten sie dem Pferd, in einem viel beachteten Gutachten, dass es tatsächlich rechnen könne. Konnte es aber nicht. Später untersuchte der Berliner Psychologe Oskar Pfungst das Pferd Hans noch einmal.
Der Pferdeflüsterer
Ergebnis: Der Trainer zeigte es dem Tier durch feinste Nuancen in Mimik und Körperhaltung an, wenn das Ergebnis erreicht und genug Hufschläge geklopft waren. Es waren unbewusste und unwillkürliche Körperzeichen, von denen der Trainer selbst nichts ahnte.
Für die Psychologie und Verhaltensforschung jedoch fiel eine enorm wichtige Erkenntnis ab: Dass Forscher bei Verhaltensexperimenten jede unbewusste Beeinflussung ausschließen müssen. Deshalb gibt es Versuche, bei denen die Tiere die Versuchsleiter gar nicht sehen, oder die Experimentatoren das erwartete Ergebnis selbst nicht kennen.
Solche Experimente haben britische Forscherinnen inzwischen auch mit Pferden gemacht. Und siehe da: Was die Pferde tatsächlich können, ist Mengen zu unterscheiden. Die Psychologinnen hatten ihnen jeweils zwei Behälter mit Futter zur Auswahl angeboten: In einem waren mehr in dem anderen weniger Äpfel. Die Tiere entschieden sich bei den Experimenten jeweils für den Behälter mit den meisten Äpfeln.
Verständnis von Mengen
Wenn wir Farben wahrnehmen, Dunkelheit oder Helligkeit, die Wärme in unserer Umgebung, Töne hören, einen Duft riechen oder einen Geschmack schmecken, wandeln unsere Sinnesorgane physikalische oder chemische Reize in Nervensignale um, aus denen das Gehirn dann den Sinneseindruck ableitet. Aber eine Anzahl von irgendetwas ist nichts Chemisches oder Physikalisches.
Bienen nutzen Landmarken
Auch bei Bienen gibt es offenbar ein Mengenverständnis. Sie können Mengen bis zu vier unterscheiden, fand eine Gruppe von Forschern aus Würzburg heraus. Das könnte den Insekten helfen, sich bei Sammelflügen zu merken, an wie vielen Landmarken sie vorbeifliegen müssen, um nektarreiche Blüten zu finden. Oder sie merken sich, aus wie vielen Blüten an einem Zweig sie schon Nektar geholt haben.
Küken folgen dem Mutterball
Professor Giorgio Vallortigara, Neurowissenschaftler von der Universität von Trient, geht es darum, das Zahlenverständnis so früh im tierischen Leben wie möglich zu untersuchen. Die Küken können noch nichts über Mengen oder Anzahlen gelernt haben, wenn sie schlüpfen. Deshalb müssen ihre Fähigkeiten angeboren sein. Und für die Tests bringen sie noch eine sehr praktische Eigenschaft mit.
Ganz junge Küken entwickeln eine sehr starke Bindung an Sozialpartner, bzw. allgemein gesprochen an Objekte, die sie kurz nach dem Schlüpfen zu Gesicht bekommen. Prägung nennen Zoologen dieses Verhalten. Die Küken laufen dem ersten bewegten Objekt nach, das sie nach dem Schlüpfen sehen. Eine sinnvolle Sache. Denn in der Regel ist dieses bewegte Objekt die Mutter. Und dank der Prägung sind die Küken in der ersten Zeit immer bei ihr. Im Labor in Trient jedoch schlüpfen sie im Brutkasten. Und werden auf Bälle geprägt.
Doch wozu brauchen Küken so etwas: Große von kleinen Mengen unterscheiden? Vermutlich sei das im sozialen Kontext wichtig, erläutert Giorgio Vallortigara. Wenn Raubtiere in der Nähe sind, ist es besser, sich einer größeren Gruppe von Küken und Hühnern anzuschließen als der kleineren. Vielleicht ist es auch wichtig, damit die Tiere sich warmhalten können. In einer großen Gruppe können sie sich –eng aneinander gedrängt - besser gegenseitig wärmen und verlieren weniger Wärme als in einer kleinen Gruppe.
Und wenn sie mal ausgewachsene Hühner und Hähne sind, hilft ihnen die Mengenunterscheidung natürlich auch dabei, ergiebigere Futterplätze zu finden. Aber die reine Unterscheidung von Mengen ist noch nicht alles, was die Forscher über den Zahlensinn der Küken herausgefunden haben. Im Labor mit den versteckten Bällen hinter den Schirmen, konnten die Tiere nachvollziehen, ob die Menge der Bälle verändert wurde.
Buchhaltung von Eiern
Anzahlen zusammenziehen und abziehen, addieren und subtrahieren: Das sind Grundrechenarten. Dass die Küken das können, heißt sie können rechnen, aber nicht mit abstrakten Zahlwörtern wie Menschen, die das in der Schule lernen und echte Arithmetik betreiben können. Aber immerhin können sie mit Schätzwerten operieren.
Vermutlich betreiben sie damit keine Buchhaltung der gepickten Körner oder der aus dem Boden gezupften Würmer, aber als älteres Huhn kann eine überschlägige Addition und Subtraktion ganz nützlich sein, wenn man einen Überblick über den Nachwuchs haben möchte.
Die Küken lernten, die gleichen Verhältnisse auch mit anderen Zahlen erkennen. Wenn sie zum Beispiel gelernt hatten, Mengen aus vier roten und 12 grünen Punkten zu erkennen und dann eine Menge aus acht roten und 24 von anderen Mischungen aus rot und grün richtig herauszufinden, zeigte das: Sie haben das Verhältnis eins zu drei erkannt.
Grundlagenforschung gegen Rechenschwäche
Die Küken sind für Giorgio Vallortigara als Tiere für die Forschung ideal. Weil sie noch nichts über Zahlen gelernt haben können, wenn sie aus dem Ei schlüpfen. Alles, was sie können, muss angeboren sein. Er will damit die biologischen Grundlagen der Mathematik erforschen. So kann das Gehirn also Mengen erkennen, ohne sie zu zählen oder gar Worte für Zahlen zu haben.
Diese Grundlagenforschung mit Tieren trägt ebenso wie die Arbeit vieler anderer Forschergruppen weltweit dazu bei, besser zu verstehen, wie Denken funktioniert, bei Tieren und bei Menschen. Und vielleicht helfen die Erkenntnisse auch ganz praktisch. Vielleicht erhalten Mediziner und Psychologen Hinweise, wie die Dyskalkulie, die Rechenschwäche, die vor allem viele Schulkinder plagt, besser therapiert werden kann.
SWR 2017