1961 flüchten pro Tag 300 DDR-Bürger nach West-Berlin
Zwei Monate, bevor in Berlin die Mauer errichtet wird, dementiert der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht diese Pläne: Niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Doch in welchem Zusammenhang fielen diese Worte? Die Situation: Immer mehr DDR-Bürger flüchteten nach West-Berlin – etwa 300 am Tag. Das war für die DDR auch ein wirtschaftliches Problem. Sie bezifferte die Kosten auf eine Milliarde Mark. Walter Ulbricht drängte deshalb die sowjetische Führung unter Chruschtschow, die Grenze nach West-Berlin zu schließen. Aber Moskau wollte primär etwas anderes: Nämlich einen formellen Friedensvertrag. Und zwar mit West-Berlin als einer sogenannten Freien und neutralen Stadt – die also nicht zur Bundesrepublik und somit auch nicht zur NATO gehören sollte.
Pressekonferenz über Friedensvertrag
Dieser Friedensvertrag ist das eigentliche Thema der etwa einstündigen Pressekonferenz am 15. Juni 1961. Die Frage, wie die Grenze von West-Berlin gestaltet werden solle, fällt relativ spät. Und es ist Ulbricht selbst, der das Wort "Mauer" als erster in den Mund nahm.
Am Anfang der Pressekonferenz stehen die grundsätzlichen Fragen des geforderten Friedensvertrages im Mittelpunkt. Dann meldet sich ein Bruno Winzer aus Karl-Marx Stadt. Winzer wird als geflüchteter westdeutscher Offizier vorgestellt. Heute weiß man: Er war als Militäragent der DDR in der Bundesrepublik tätig. Seine angebliche Flucht und die damit verbundenen "Enthüllungen" über angebliche Aggressionspläne der Bundeswehr dienten der DDR-Propaganda und auch dazu, die Abschottung West-Berlins mit Argumenten zu unterfüttern.
Staatsgrenze: Annamarie Doherr hakt nach
Am Ende der Pressekonferenz geht es um die konkreten Auswirkungen auf Berlin. Jetzt kommen auch Vertreter aus dem Westen zu Wort. Zunächst der "Spiegel", dann ein Korrespondent der "Daily Mail" in London und schließlich meldet sich Annamarie Doherr von der "Frankfurter Rundschau", die bei Ulbricht nochmal nachhakte und ihm seinen berühmten Satz entlockt. Sie fragt nicht nach einer "Mauer", sondern:
Woraufhin Walter Ulbricht antwortet:
Annamarie Doherr war selbst 1945 aus der sowjetisch besetzten Zone nach West-Berlin übergesiedelt.
"Größte Lüge des Jahrhunderts!" – Stimmt das?
Später wurde Ulbrichts Mauer-Statement als die größte Lüge des Jahrhunderts gebrandmarkt. In Berlin wurden Schilder aufgestellt, die man vom Osten aussehen konnte, auf denen Ulbricht stand, um ihn mit seinem Zitat zu entlarven. Doch hat Walter Ulbricht wirklich gelogen? Oder war die Mauer zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch nicht in Planung?
Zumindest als Option hatte er sie im Kopf, meint auch der Historiker Dr. Stefan Wolle in SWR2 Wissen:
"Die DDR hat logistisch beide Varianten vorbereitet. Die eine Variante war: Die DDR erhält die Hoheit über die Luftkorridore und wird den Luftverkehr künftig über Schönefeld abwickeln. Dadurch hätte die DDR praktisch totale Kontrolle über alles, was nach West-Berlin geht und was von West-Berlin weggeht. Das hätte Ulbrich gar nicht mal so schlecht gefallen, weil dann die sogenannte "Freie Stadt Berlin" früher oder später der DDR ganz in den Schoß gefallen wäre. Das aber hätte grundsätzlich alliierte Rechte verletzt, und da wollte man auch seitens der Sowjetunion nicht ran.
Die andere Variante war das, was dann gekommen ist, also die Abschließung West-Berlins durch eine Sperre. Interessanterweise fällt da der Begriff Mauer schon, der eigentlich erst im Grunde durch Walter Ulbricht so in die Debatte kam. Ulbrich hat sich da auch als großer Sprachschöpfer etabliert. Denn es war ja auch zunächst überhaupt keine Mauer, sondern ein Stacheldrahtverhau. Die eigentliche Mauer, so wie es viele noch in Erinnerung haben, kam erst später."
Deshalb Wolles Fazit: "Er hat eigentlich nicht wirklich gelogen in dem Moment." Ulbricht habe sich eine andere Lösung für Berlin erhofft. "Aber er wurde dann im Grunde von der Sowjetunion gebremst, weil die sich nicht mit den USA anlegen wollten, und die Verantwortung der vier Mächte über Berlin in gewisser Weise erhalten wollten."
Die endgültige Entscheidung für die Mauer fiel deshalb vermutlich erst kurz vor dem 13. August, als Ulbricht erkannte, dass sein Plan B keine Chance hatte.
Wir hören aus rechtlichen Gründen hier nur Ausschnitte der Pressekonferenz.
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv
Mauerbau 1961 in Originaltönen
13.8.1961 DDR-Nachrichten zum Mauerbau
13.8.1961 | Der Deutschlandsender war das Radioprogramm des Staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR. So berichtete es am Tag, als die DDR die Sektorengrenze abriegelte, um zunächst eine Grenze aus Stacheldraht zu ziehen, und schließlich eine Mauer zu bauen.
Im Rundfunk der DDR wurde außerdem die Anweisung des Innenministerium verlesen, die die Grundlage für die Grenzmaßnahmen darstellt.
13.8.1961 Beginn des Mauerbaus in Berlin: Reportagen von der Sektorengrenze
Der 13. August 1961 gilt als Beginn des Mauerbaus. Eine Mauer ist an dem Tag allerdings noch nicht zu sehen, aber Stacheldraht: Die DDR riegelt die Sektorengrenze ab und reißt stellenweise die Straßen auf. Dass irgendwas passiert, ist unübersehbar. Schon in den frühen Morgenstunden schicken Sender Freies Berlin (SFB) und RIAS ihre Reporter an die Sektorengrenze. Wir hören zunächst Götz Kronburger vom SFB.
Eine Viertelstunde später meldet sich RIAS-Reporter Rainer Höynck vom Potsdamer Platz.
Später fährt Erich Nieswandt vom SFB für den Sender Freies Berlin von einem Grenzübergang zum anderen. Wir hören ihn erst am Brandenburger Tor und anschließend an der Bernauer Straße.
Die Situation an der Bernauer Straße ist bizarr, denn auf der südlichen Straßenseite verläuft die Sektorengrenze direkt an der Hauswand: Die Häuser gehören zu Ost-, der Bürgersteig zu Westberlin. Später wurden die Hauseingänge zugemauert, die Menschen konnten nur noch über die Hinterhöfe in ihre Wohnungen gelangen. Immer wieder sind aber auch Bewohner in den Westen geflohen, indem sie aus dem Fenster über die Grenze sprangen. Teilweise wurden sie mithilfe von Feuerwehr-Sprungtüchern auf dem Bürgersteig aufgefangen, erklärt der Historiker Stefan Wolle in SWR2 Wissen:
"Davon gibt es Fotos und eben auch Rundfunkreportagen. Die Bernauer Straße geriet schnell in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit durch die spektakulären Fluchtaktionen. Später wurden dann diese Häuser ganz abgerissen, damit die Posten der DDR freies Schussfeld haben, um auf Flüchtlinge zu schießen.“
13.8.1961 Die Mauer entsteht – Umfrage unter DDR-Bürgern
13.8.1961 | Am Tag, als die DDR-Regierung die Sektorengrenze abriegelt – die Vorstufe zum Mauerbau – sendet Radio DDR eine Umfrage unter den eigenen Bürgerinnen und Bürgern. Gesendet werden ausschließlich Stimmen, die die Regierung in Ostberlin für die Maßnahmen loben. Sie „hätten schon viel früher“ kommen müssen.
14.8.1961 Walter Ulbricht im Gespräch mit Arbeitern und Soldaten
14.8.1961 | Am Tag nach Beginn des Mauerbaus begleitet das DDR-Fernsehen Walter Ulbricht, wie er sich in Ostberlin unters Volk mischt und mit Arbeitern und Soldaten spricht – vorbereitet durch eine überschwängliche Anmoderation.
14.8.1961 Propagandamusik zum Mauerbau: "Unser schönes Berlin wird sauber sein"
14.8.1961 | Zur DDR-Propaganda gehörte auch Musik. Einen Tag nach Abriegelung der Sektorengrenze in Berlin sendet Radio DDR am 14. August 1961 einige Lieder, die die Maßnahmen der Regierung als Befreiung und Säuberung Berlins glorifizieren. Den Anfang macht das folgende Stück des Komponisten Walter Kubiczeck. Der Text stammt von Eberhard Fensch. Laut der Ansage im Radio wurden dieses und andere Stücke angeblich innerhalb weniger Stunden geschrieben.
Im Lied ist von den „Kalten Kriegern am Rhein“ die Rede. Dies spielt auf einen Vorwurf an, der in der DDR immer zu hören war, dass es in Bonn Pläne gäbe, die DDR zu annektieren und schließlich die Grenzen von 1939 wieder herzustellen.
16.8.1961 Willy Brandt verurteilt Mauerbau – Eine seiner emotionalsten Reden
16.8.1961 | Am 13. August 1961 beginnt in Berlin der Bau der Mauer – nachdem der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 noch behauptet hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Am 16. August findet vor dem Schöneberger Rathaus eine große Protestkundgebung statt. Dort spricht auch der Regierende Bürgermeister Willy Brandt. Es ist eine seiner entschiedensten und emotionalsten Reden. Er macht deutlich: Es geht hier um weit mehr als nur um Berlin. Man dürfe sich das nicht bieten lassen.
Brandt warnt vor weiterer Appeasement-Politik. Denn die Versuche, durch politische Kompromisse und wirtschaftliche Abkommen der DDR-Führung entgegenzukommen, seien offenbar gescheitert und hätten diese nur noch zu weiteren Repressionen ermutigt. Und wer jetzt noch aus dem Westen zur Leipziger Buchmesse reise, solle gleich drübenbleiben.