Was zu beachten ist, wenn die Stasi junge Männer für eine Offizierslaufbahn anwirbt – davon handelt der folgende Vortrag von „Genossin Oberstleutnant Medizinalrat Dr. Helga Weser“, Vorsitzende des Zentralen Medizinischen Dienstes.
Dr. Weser ist krank, deshalb verliest ihr Mitarbeiter, Dr. Wolfram Eisengräber ihren Vortrag, auch er ist ein führender DDR-Psychiater. Weder Weser noch Eisengräber waren Psychologen, auch wenn ihre Arbeitsgruppe „Neurologie, Psychiatrie und Psychologie“ hieß. Der Vortrag könnte aus den späten 1970er Jahren stammen. Er trägt den Titel. „Neue Erkenntnisse bei der Kaderwerbung“.
Weder und Eisengräber arbeiteten im 1974 gegründeten Zentralen Medizinischen Dienst des Ministeriums. Dieser diente auch der psychologischen Betreuung von hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi. Im Publikum des Saals saßen offenbar Funktionäre des MfS, die mit Problemen der Nachwuchs-Rekrutierung konfrontiert waren.
Helga Wesers Text arbeitet praktisch an keiner Stelle mit ideologischen Begrifflichkeiten und zeichnet auch kein ideales Bild der sozialistischen Gesellschaft. Stattdessen leuchtet er in die kleinbürgerliche Welt der DDR-Psyche hinein. Für die Anwerbung müsse das Umfeld des Kandidaten abgeklopft werden, statt auf Schulzeugnisse zu sehen. Insbesondere seien Frauen, die den Bewerber haben aufwachsen sehen, eine gute Informationsquelle. Nur sie könnten erzählen, ob er ein Wunschkind seiner Eltern war, wie früh er mit sexuellen Beziehungen begann, ob die Freundinnen im Elternhaus willkommen waren usw. Falls die sexuellen Beziehungen homosexueller Natur waren, führe das zur „Untauglichkeit“. Man müsse auch bei verheirateten Kandidaten fragen, ob in der Vergangenheit homosexuellen Erlebnisse im Spiel waren.
Wenn ein junger Mann sehr früh eine Freundin habe, könne dies ein Zeichen für ausgeprägte Kontaktbereitschaft sein. Kontaktgestörte Personen wären für das MfS ohne Nutzen.
Wenn Bewerber als Kind oft krank waren und nicht zur Schule gingen, sei das ein Zeichen für die „verwöhnende Haltung der Eltern“. Bei solchen Bewerbungen müssen man auch das Vorschulalter betrachten.
Gebildeten, „intellektuellen Kandidaten“ müsse man mit Vorsicht begegnen, weil sie oft verbal ausgefeilt ideologische Gründe vorschoben, in Wirklichkeit aber nur auf die guten Verdienstmöglichkeiten bei der Stasi aus seien. Oft sei bei ihnen eine Überheblichkeit beim Bewerbungsgespräch zu spüren.
Dr. Eisengräber warnt vor den vielen „echt schwachsinnigen Genossen“. Sie kämen meist von der Hilfsschule und wünschten sich Tätigkeiten im MfS wie Autos zu waschen. Sie seien sofort als untauglich einzustufen. Man werde beim MfS ja nicht als Autowäscher, sondern als Berufssoldat eingestellt. Bei Schwachsinnigen ließe sich das Verhalten nicht programmieren, also seien sie, wie alle Hilfsschüler, ein Sicherheitsrisiko. Zwar sei nicht jeder Hilfsschüler schwachsinnig, wohl aber die meisten.
Nach etwa einer Stunde spricht der Vortragende ein Problem an, welches er persönlich bei der Kaderwerbung sehr ernst nähme: Alkohol. Dies führt im Publikum des Saals sofort zu erheiterter Unruhe. „Es macht fast jeder in der DDR, dass er zum Abendbrot sein Bier trinkt. Macht er sich dadurch schon verdächtig?“ Auch hier wieder Lachen der Stasi-Offiziere im Publikum. Ein Bier pro Abend, so der Vortragende, sei normal. Aber immer öfter zeigten selbst junge Kollegen Alkoholprobleme.
Danach wird die Tonqualität schlecht und die Diskussion schwer unverständlich. Deswegen hören wir hier die letzte halbe Stunde nicht mehr.
Das Band fand sich in der Stasi-Bezirksverwaltung Halle.
MfS BV Hle/Tb/422