Jedes Jahr pilgern Tausende von Touristen nach Oberndorf in der Nähe von Salzburg. Dort wurde das Lied "uraufgeführt", an Heiligabend 1818. Seit über 50 Jahren gibt es in der Oberndorfer Stille-Nacht-Kapelle an Heiligabend um 17 Uhr eine Stille-Nacht-Gedächtnisfeier, die inzwischen auch per Webcam live übertragen wird.
Gleich neben der Kapelle ist das Stille-Nacht-Museum, wo man alles über die Entstehung des Liedes erfährt; in der Adventszeit richtet die österreichische Post in einem Nebenzimmer des Museums extra ein Postamt ein. Wer seine Weihnachtskarten dort abschickt, bekommt die Stille-Nacht-Sonderbriefmarke samt Sonderstempel; jedes Jahr mit einem anderen Motiv.
Die Stille-Nacht-Gesellschaft veranstaltet regelmäßig Vorträge und Kongresse, bei denen wahrscheinlich inzwischen alle Einzelheiten dieses Liedes wissenschaftlich untersucht und dokumentiert wurden. Zwei Spielfilme haben sich dem Lied und seiner Entstehungsgeschichte gewidmet; einer in den 1930er-Jahren, der andere erst vor kurzem. 2011 hat die Österreichische UNESCO-Kommission "Stille Nacht" in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Klingt alles rekordverdächtig – weniger nach Stille als nach Medienrummel und Kommerz.
Der Ursprung von "Stille Nacht"
Dabei fing es ausgesprochen bescheiden an mit der "Stillen Nacht":
Josef Mohr, katholischer Hilfspfarrer in Oberndorf, steckt dem Organisten Franz Xaver Gruber ein Gedicht zu, das er zwei Jahre zuvor geschrieben hat. Gruber soll eine geeignete Melodie dazu erfinden. Einfach, damit der Kirchenchor ohne viele Proben mitsingen kann, und mit Gitarrenbegleitung. Vermutlich ist die Orgel der Kirche mal wieder kaputt und man kann sich keine Reparatur leisten.
Am Heiligabend 1818 singen also der Pfarrer und der Organist im Duett zum ersten Mal "Stille Nacht, Heilige Nacht". Der Chor wiederholt dabei als eine Art Echo jeweils die letzten paar Takte jeder Strophe. Das Lied stößt auf Begeisterung; sein inniger Text und seine schlichte Melodie passen perfekt zusammen.
Von den sechs Strophen werden heute nur drei gesungen
"Stille Nacht" hat sechs Strophen. Leider werden davon heute meist nur die drei gesungen, die ein weihnachtliches Idyll formulieren und die im entsprechenden Ambiente natürlich sentimental, süßlich und kitschig wirken. Die vierte Strophe zum Beispiel hört man so gut wie nie:
Quelle der Hoffnung in unsicheren Zeiten
Die Sehnsucht nach Frieden und nach einem Zusammenrücken der Völker ist im Jahr 1816, als Joseph Mohr seinen Text schreibt, sehr aktuell. Gerade sind die Napoleonischen Kriege vorüber, die Bayerischen Besatzungstruppen sind abgerückt und der Wiener Kongress regelt die Grenzen Europas neu.
Die Gegend um Salzburg, wo das Lied entsteht, ist direkt davon betroffen: Ein Teil gehört weiterhin zu Österreich, der andere Teil zu Bayern. Die Salzach ist die neue Staatsgrenze – jener Fluss, auf dem schon seit Jahrhunderten das wichtigste Exportgut der Region transportiert wird: das Salz. Der Fluss ist die Grundlage für den Wohlstand vieler Menschen. Sie sehen unsicheren Zeiten entgegen – und gerade für sie ist die Weihnachtsbotschaft und die Botschaft dieses Liedes ein Quell der Hoffnung.
Die Verbreitung von "Stille Nacht"
Schon bald wandert "Stille Nacht" in die weite Welt – zunächst nach Tirol, zu der Handwerkerfamilie Rainer, die Handschuhe herstellt und nebenbei auch alpenländische Musik macht. Die Rainers verkaufen ihre Lederwaren in weitem Umkreis, unter anderem auf der Leipziger Messe. In den industrialisierten Städten des 19. Jahrhunderts ist man gierig auf alles Naturwüchsig-Alpenländische und hört dem Gesang der Familie Rainer mit Begeisterung zu. Natürlich haben die vier auch "Stille Nacht" im Repertoire.
1833 wird das Lied zum ersten Mal gedruckt, da ist es knapp 15 Jahre alt. Kurz darauf gelangt es in ein Schulgesangbuch und erobert bald die Liederbücher. Weniger die kirchlichen Gesangbücher - hier findet man es lange Zeit nur im Anhang - als vielmehr die Bücher für Jugendliche, für die Mission und das Militär.
Weihnachten 1914 im Schützengraben - mit Stille Nacht
Im ersten Weltkrieg singen deutsche und englische Soldaten an Weihnachten 1914 gemeinsam in ihren jeweiligen Schützengräben "Stille Nacht" gleichzeitig, jeder in seiner eigenen Sprache; und wahrscheinlich in der selben Tonlage. So wird das Lied da, wo Versöhnung in weiter Ferne steht, zu einem Zeichen der menschlichen Nähe.
Liederprojekt Weihnachtslieder: Die Geschichten hinter den Klassikern
Von „Stille Nacht“ über „Kling, Glöckchen, klingelingeling“ bis „Maria durch ein Dornwald ging“ – wir haben gemeinsam mit dem Carus-Verlag dreißig traditionelle deutsche Weihnachtslieder aufgenommen und erzählen ihre Entstehungsgeschichte.